Ohne Scrollbalken

Die Beta-Version des New York Times Reader.

Artikelansicht im Times Reader

Die New York Times hat in Zusammenarbeit mit Microsoft eine eigene Software zum Lesen von Zeitungsartikeln entwickelt, den Times Reader, derzeit im Beta-Stadium. Die Darstellung passt sich nahezu perfekt an die gewünschte oder vom Bildschirm vorgegebene Breite an: fünf- oder einspaltig, große oder kleine Überschriften, mit oder ohne Fotos — das alles variiert das Programm. Die Navigation durch die Artikel mit den Cursor-Tasten ist sehr bequem, es gibt keinerlei Scrollbalken, die Seitenwechsel sind flott und die Darstellung exzellent. Fotos kommen gut zur Geltung. Ein Kontextmenü zum Drucken, Kopieren, Speichern und Annotieren ist ebenfalls vorhanden.

Optisch gelungen ist die Suche: Neben einer normalen Listenansicht und einer Ansicht, bei der sich Relevanz in Größe niederschlägt, gibt es einen Topic Explorer. Das Programm greift auf die Schlagworte des jeweiligen Artikels zurück und zeigt so Artikel zum selben Thema — aber anscheinend leider nur in der selben Ausgabe.

Schlagwort-Baum im Topic Explorer

Ausgereift ist das Programm allerdings noch lange nicht: Der Ausdruck sieht gruselig aus (wirre Zeichenabstände), und gespeichert wird in einem proprietären Format. Wer einen Artikel mit del.icio.us und Co speichern will, muss zunächst auf „Open in Browser“ klicken. Der Reader weiß auch nichts von weiteren Inhalten im Web, etwa einer vertonten Bildergalerie oder weiteren Artikeln aus einer Serie. Und die Beta-Version des Readers ist mir binnen kurzer Zeit drei Mal abgestürzt.

Wozu also eine Zeitung auf diese Weise lesen? Tatsächlich ist das Lesegefühl deutlich näher am Zeitungslesen als eine Webseite, nicht nur typografisch. Das Programm vermittelt den Eindruck einer abgeschlossenen Ausgabe, macht das Durchblättern leicht. Und von dem Unsinn, eine Seite wie gedruckt darzustellen und den Leser auf eine wilde Scroll-Tour zu schicken, ist es weit entfernt. Zugleich verliert der Leser aber all die Vorteile, die ein selbst konfigurierter Browser mit Plugins und eigenen Lesezeichen bietet.

Mac- und Linux-Versionen seien geplant, schreibt die Times. Bis dahin ist die Test-Installation auch für Windows-XP-Nutzer reichlich mühsam: Erst muss eine Gamma-Version von .NET Framework 3.0 auf den Rechner, dann der Reader. Eigentlich gedacht ist das Programm für Windows Vista. Und erst 2007 will die New York Times offiziell entscheiden, ob Times Reader etwas kosten oder sich durch die schon jetzt vorhandenen, relativ unaufdringlichen Anzeigen finanzieren soll.

Mehr zum Thema:
Screenshots: Online-Hilfe zum Reader und Read/Write Web
Editors Weblog: „(I)t is a first step.“
CNet Web 2.0 Blog: „I like the Time Reader application very much, but its existence puzzles me.“

Der innere Konservative

Zeitungszukunft ohne Massenmarkt.

„I think most of us have an inner George Bush“, schreibt BBC-Breakfast-Chef David Kermode über die Berichterstattung zum Thema Klimawandel. Stimmt: Wider besseres Wissen ignoriert man gern, was eigentlich erhebliche Umstellungen erfordert.

Anderswo, bei den Medien hat mittlerweile fast jeder begriffen, dass sich das eigene Gebiet gerade umwälzt. Wie man darauf am besten reagiert, ist weitaus weniger klar. Der beim Guardian bloggende Journalistik-Prof Roy Greenslade weist auf eine spannende Rede von Earl Wilkinson (International Newspaper Marketing Association) hin und spinnt dessen Gedanken weiter: Tageszeitungen für den Massenmarkt sind passé, Verleger sollten lieber viele Nischen perfekt bedienen und das auf vielerlei Wegen statt auf ein einziges Riesen-Produkt für jedermann zu setzen. Und dann ein anderes Maß für Erfolg finden als die verkaufte Auflage. Andererseits: Wer würde das angesichts fallender Auflagen nicht tun? Trotzdem lesenswert.

(PS: Hallo Welt! Die Kommunalwahlen in Niedersachsen und die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern sind vorbei, meine Armbanduhr hat eine neue Batterie, der Kühlschrank ist wieder gefüllt und die Haare sind geschnitten. Kann also weitergehen. Verpasste Blog-Gelegenheiten kurz verlinkt: Show des freien Wissens, Elektrischer Reporter, lonelygirl15, benedikt16, SpOn 7.0.)

Zeitungsforschung per Wiki

Endspurt beim Auswerten.

Eine Dose AAL mit Aufkleber: Andere arbeiten lassen Die Reaktionen auf das Experiment, Zeitungsfeatures gemeinsam per Wiki zu untersuchen, haben meine Erwartungen komplett übertroffen. Mehrere Leute wollen beim Auswerten helfen, zwei Drittel der Zeitungen sind schon untersucht. Und das, obwohl meine Wiki-Methode äußerst unelegant ist.

Störenfriede sind dem Wiki weitgehend ferngeblieben. Einzelne Nutzer haben weitere Zeitungen aufgelistet, aber nicht ausgewertet — die Blätter habe ich wieder gestrichen. (Zur Erläuterung: Wenn beispielsweise die „junge Welt“ fehlt, dann nicht aus ideologischen Gründen, sondern mangels Auflage. Die „junge Welt“ lag vor zwei Jahren bei 14.000 Exemplaren, also bei einem Zehntel der „Kreiszeitung Syke“.)

Vom „Donaukurier“ bis zum „Wiesbadener Kurier“ gibt es aber einige Zeitungen, die noch niemand untersucht hat. Wer beim Endspurt mithelfen will, sucht sich eine Zeitung mit rotem Link auf der Übersichtsseite. Dann bitte einmal den Text {{subst:Zeitungsfeatures}} in die leere Seite einfügen und speichern: Dadurch entsteht die Liste der Kriterien. Einmal auf ‚bearbeiten‘ klicken, die Angaben zur Zeitung ergänzen und am Ende natürlich noch einmal speichern.

Wahre Größe

Pressekonzentration in Deutschland.

Kreisdiagramm mit Anteilen von 97,3 Prozent und 2,7 Prozent Axel Springer, WAZ-Gruppe, Stuttgarter Zeitung/Rheinpfalz/Südwest Presse, Ippen-Gruppe und DuMont Schauberg — diese fünf Verlagsgruppen decken 97,3 Prozent des deutschen Kauf-Tageszeitungsmarktes (also ohne Tageszeitungs-Abos) ab.

Der Artikel des Medienwissenschaftlers Horst Röper über die Konzentration der deutschen Tagespresse im 1. Quartal 2006 steckt voller solcher Datenschätze. Dabei schaut er sich vor allem die zehn größten Verlagsgruppen an, aber auch die Entwicklung der Tagespresse insgesamt, neue Konzepte, Gratiszeitungen und E-Paper. In der Zeitschrift Media Perspektiven ist Röper übrigens Dauer-Autor zum Thema Medienkonzentration. Ähnlich faktengesättigt sind seine Medienmulti-Analysen — im aktuellen Teil 1 geht es um ProSiebenSat1 und Axel Springer, im Teil 2 um Bertelsmann, RTL, Gruner + Jahr, Burda, WAZ, Holtzbrinck und Bauer.

(Disclaimer: Die medienwissenschaftliche und medienpolitische Fachzeitschrift Media Perspektiven wird von den ARD-Werbegesellschaften herausgegeben. Der NDR ist mein Arbeitgeber.)

Upgrade im Westen

Die Online-Pläne der WAZ-Gruppe.

WAZ 2.0? Eine der Urformen von location based services heißt: Lokalteil einer Regionalzeitung. Eigentlich müsste sie auch im Netz die Keimzelle von Communities und der Traum vieler Anzeigenkunden sein. Was viele Tageszeitungen stattdessen im Netz bieten, sind eingekaufte Nachrichten, ein paar Artikel aus der Papierausgabe und dazu ein Forum. Online als Randaktivität in den Händen von Beauftragten.

Dass das anders werden muss, hat die Spitze der WAZ-Mediengruppe nun offenbar eingesehen und eine Bloggerin zur Online-Chefredakteurin auserkoren. Die Reaktion unter den Bloggern und Podcastern beim gestrigen Stelldichein mit den WAZ-Granden war eine Mischung aus großer Freude für Katharina Borchert alias Lyssa und dem Gefühl, dass sie sich da einen ordentlichen Brocken vorgenommen hat. Wenn ihr tatsächlich gelingt, im Raum der Westdeutschen Allgemeinen, Neuen Ruhr Zeitung/Neuen Rhein Zeitung, Westfälischen Rundschau und Westfalenpost eine Kombination aus journalistischem Qualitätsangebot und Web-2.0-Plattform zu machen, dann liegt die Messlatte für alle übrigen Zeitungen — nicht nur die regionalen — künftig deutlich höher. (Ein mahnender Schwenzelismus: „Das Gegenteil von einfach heißt Portal“.)

Im taz-Blog Bildschirmtext zieht Philipp Dudek einen Zusammenhang zwischen der Online-Offensive und der Schließung von WAZ-Lokalredaktionen in Herten (65.000 Einwohner), Marl (90.000 Einwohner), Datteln (plus Olfen), Haltern, Oer-Erkenschwick und Waltrop (zwischen 30.000 und 40.000 Einwohner). Allerdings benennt Dudek den Zusammenhang nicht. Die Finanzanalysten der Deutschen Bank sind da offener: „We believe that the business is broken or, at the very least, is in the process of rusting away.“ Das beschriebene Business ist übrigens die Zeitungsbranche. Dass das in Deutschland nicht anders ist, zeigt ein Blick auf die IVW-Auflagenentwicklung der vergangenen zehn Jahre (und die ist noch nicht einmal nach Geburtsjahrgang der Leser sortiert).

Mehr zum Thema:
Heiko Hebig: Im Dialog mit der WAZ
Thomas Knüwer: Gestern bei Wazens
Jan Schmidt: Workshop in Essen
Matthias Kretschmer: WAZ goes Web 2.0 – so zumindest der Plan
Mario Sixtus: Waz für ne Idee! (aua!)
Felix Schwenzel: bodo holt lyssa aus dem abgefahrenen zug
Nicole Simon: Änderungen in kleinen oder großen Schritten

Nachtrag: Zudem Neues vom Haltungsturner: Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach wird beim PR-Netzwerk Edelman Director Online Conversations und CBO.