ICANN für .xxx

Ende eines jahrelangen Ringens?

Das erste Mal, dass Wortfeld über Pläne für eine .xxx-Domain berichtet hat, ist fast sieben Jahre her. Die Vorgeschichte bis zum Jahr 2006 gibt es an anderer Stelle zusammengefasst. Und jetzt geschieht das Wunder: Das ICANN-Direktorium beschließt die Rotlicht-Domain .xxx.

Das könnte spannend werden – nicht, was die Inhalte unter .xxx angeht, sondern was das für ICANN bedeutet. Das Direktorium der Netzverwaltung hat sich damit über den Rat der Regierungen hinweggesetzt, genauer: des Beratenden Regierungskomitees GAC.

Nicht, dass sich das GAC strikt gegen .xxx ausspricht; das tun einige Regierungen, aber längst nicht alle. 2005 schrieb der GAC-Vorsitzende ans ICANN-Direktorium, es herrsche „a strong sense of discomfort in the GAC“, wenn es um diese Domain gehe. Bis heute blieb die GAC-Kritik schwammig. Der .xxx-Antrag sieht jetzt sogar vor, dass das GAC und die Regierungen kulturell und religiös bedeutende Wörter vorab einreichen können, damit es diese nicht unter .xxx registriert werden können. (Natürlich wird .xxx in einigen Ländern gefiltert werden – das wissen auch diejenigen, die sich eine .xxx-Domain bestellen und nehmen es in Kauf.)

Was passiert also, wenn ICANN die Ratschläge des GAC nicht beherzigt? Diesmal vermutlich wenig. Auch im GAC sind nicht alle gleich – angefangen mit der US-Regierung. Wenn auf der obersten Ebene des Domainnamensystems, in der Rootzone, etwas geändert werden soll, wird das zuerst von der NTIA, einer Behörde des US-Handelsministeriums, überprüft. Ein Veto an dieser Stelle ist also technisch machtvoll, aber zugleich politisch potenziell selbstzerstörerisch: Je stärker und je isolierter die USA davon Gebrauch machen würden, desto stärken würden sich andere Regierungen, Rootserver-Betreiber und Nutzer anstrengen, das bisherige System durch ein anderes ersetzen.

Ablauf der Root-Zone-Verwaltung

Die US-Regierung hat sich in Sachen .xxx schon einmal eingemischt, auf Druck der religiösen Rechten, und das Verfahren weiter verzögert. Dabei ist die amerikanische Position gar nicht so aufregend: Man will natürlich nicht als Unterstützer von .xxx-Inhalten gelten.

Wenn also alles mit rechten Dingen zugeht, passiert dies: ICANN will .xxx in die Rootzone einfügen, das US-Handelsministerium prüft und stellt fest, dass das korrekte Verfahren eingehalten worden ist, Verisign fügt .xxx in die Rootzone-Datei ein und wenig später ist die Domain sichtbar. Mal sehen, was das für das Verhältnis von ICANN und Regierungen bedeutet.

"ICANN, übernehmen Sie!"

Neue Spiegel-Titelstory mit altem Helden.

Spiegel-Titel Netz ohne Gesetz – warum das Internet neue Regeln braucht Die Spiegel-Titelstory „Netz ohne Gesetz – warum das Internet neue Regeln braucht“ (anfangs kostenpflichtig, später kostenfrei) ist erfreulich differenziert, nennt ungelöste Probleme und stellt vor allem viele Fragen. Völlig überraschend und bizarr ist allerdings die Schlusspointe: Auf der letzten Seite bringen die fünf Autoren ICANN ins Spiel, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, und konstruieren sie zum potenziellen Heilsbringer um. Ich dachte, wir hätten diese Zeiten hinter uns.

Auf ICANN kommt das Autorenquintett über das Thema Domainstreitigkeiten — angeblich der Nukleus einer „digitalen Verfassung“, die „auch ohne völkerrechtliche Anerkennung Geltung gewonnen“ habe. Ja, es gibt ein von ICANN beschlossenes internationales Schiedsverfahren namens UDRP (Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy). Was es nicht gibt, ist das im Spiegel-Artikel erwähnte „Schiedsgremium der ICANN, eine Art Welt-Netzgericht“, denn ICANN entscheidet gar nicht selbst über solche Domainstreitigkeiten.

Es gibt derzeit vier Schiedsstellen, bei denen man so ein Verfahren beantragen kann – und die mit den weitaus meisten Fällen ist diejenige der WIPO, der Weltorganisation für geistiges Eigentum. Die UDRP ist also kein klassisches Völkerrecht, wird aber von Institutionen des klassischen Völkerrechts mitgetragen und basiert indirekt auf internationalen Vereinbarungen: Die Richtlinie definiert nicht, was ein Warenzeichen ist, das ergibt sich aus nationalem und internationalem Recht. Und wer das UDRP-Verfahren vor der Schiedsstelle verliert, kann anschließend vor ein normales Gericht ziehen.

Kurz gefasst: Dieses Domain-Schiedsverfahren ist allerhöchstens Rechtsprechung ultralight. Wo kommt dann also dieses dramatische Zitat her, das der Spiegel ICANN unterschiebt?

„Das Internet ist vor allem das Gerüst der globalen Kommunikation, und die Freiheit des Wortes sollte eine der Grundlagen des Internetrechts sein.“

Womöglich haben die Spiegel-Autoren diesen Satz in einem sechs Jahre alten Text des Frankfurter Juraprofessors Gunther Teubner (PDF) gefunden, aus dem auch die Gedanken zu „Lex digitalis“ und „Lex mercatoria“ stammen. Das Zitat steht in einer UDRP-Entscheidung aus dem Jahr 2000, verfasst von einem Ein-Personen-Panel, besetzt mit einer amerikanischen Juristin, in einer Auseinandersetzung zwischen einem Amerikaner und der Firma Bridgestone Firestone. Dass sie dabei amerikanische Maßstäbe von Freedom of Speech anwendet, ist einigermaßen nachvollziehbar.

Aber an dieser Stelle wird aus dem Domainstreit zwischen einer Reifenfirma und einem unzufriedenen Ex-Mitarbeiter vor neun Jahren plötzlich ein genereller Lösungsansatz für Internet-Probleme — und die Spiegel-Autoren verlieren ein wenig die Bodenhaftung. Hier muss einmal der ganze Absatz zitiert werden:

„Freiheit zuerst – keine staatliche Verfassung der Erde, nicht die Menschenrechte und kein göttliches Gesetz haben die Juristen von ICANN für diese Erkenntnis zitiert. Sie haben es einfach hingeschrieben. Weil irgendjemand ja entscheiden muss.“

Es waren nicht die Juristen von ICANN, sondern eine einzelne Juristin der WIPO-Schiedsstelle, und im Vorfeld zitiert sie das US-Bundesbezirksgericht für das westliche New York und das für Zentral-Kalifornien, das US-Bundesberufungsgericht für den zweiten Bezirk und für den neunten Bezirk. (Es braucht auch nicht viel Fantasie, um zu erraten, woher die amerikanischen Richter das mit der Redefreiheit wohl haben.)

Wer ernsthaft glaubt, ICANN könne möglicherweise „den internationalen Zirkus der von den Staaten angetriebenen Konsenssuche ersetzen“, hat noch nie an einer ICANN-Tagung teilgenommen. „Weltweit gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe“ klingt gut auf dem Papier, aber die Akteure im ICANN-Prozess haben extrem unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung. Das fängt schon mit den Flugtickets für den internationalen Wanderzirkus ICANN an, der Ende Oktober in Seoul, Mitte März 2010 in Nairobi, im Juni in Europa und im Dezember in Südamerika tagt – wer nur über das Netz teilnimmt, kann weitaus weniger Einfluss nehmen. Vor allem aber sind die Staaten bei ICANN keineswegs außen vor: Sie sind formell und informell eingebunden und können, wenn sie es wollen, jede ICANN-Entscheidung auf einem der beiden Wege stoppen. Die US-Regierung hat über Verträge einen besonderen Trumpf, aber auch die Europäische Union, Australien oder Japan sind wichtige Spieler.

Die letzte Seite des Spiegel-Artikels ist ein merkwürdiger Flashback ins Jahr 2000, als nicht nur Spiegel Online im ICANN-Rausch war, Peter Glotz vom „regierten Cyberspace“ sprach und sich alle auf die Online-Wahl der ICANN-Direktoren stürzten. Im Jahr 2009 ist ICANN eines der Themen, bei denen selbst heise-Forenkommentatoren nicht mehr viel einfällt, die Online-Wahl ist längst wieder abgeschafft, die US-Regierung spielt ihre Sonderrolle weiterhin und für neue Domainendungen interessieren sich auch nicht mehr ganz so viele.

Nota bene: Ich will ICANN nicht schlechtreden, sondern im Gegenteil vor überzogenen Vorstellungen in Schutz nehmen. Dass das Domainnamensystem den Übergang vom Wissenschaftler-Internet zum globalen Netzwerk mit mehr als einer Milliarde Nutzern einigermaßen unbeschadet überstanden hat, ohne völlig auseinanderzufliegen, ist schon eine Leistung. Was für ein Wahnsinn ist da ein Plädoyer, ICANN binnen zwei Monaten in „eine supranationale unabhängige Instanz“ zu verwandeln und mit „weitreichenden Befugnissen und Mitteln“ auszustatten, ohne auch nur einmal über Legitimation und Kontrolle zu reden, von den genauen Aufgaben ganz zu schweigen. Über Internet Governance nachdenken: gern! Aber dann bitte gründlich.

Offiziell nur beratend

Deutsches Statement zu ICANN, ITU & Co.

Es ist mal wieder Zeit für eine Dosis esoterische Internetpolitik:

Monika Ermert hat bei heise online über ein Statement der Bundesregierung zum Thema internationale Internetverwaltung berichtet. In dieser Erklärung trägt BMWi-Ministerialrat Peter Voss vor, Deutschland sei mehr oder weniger zufrieden mit den Ergebnissen der bisherigen Kooperationsmechanismen (ITU, ICANN und Internet Governance Forum). Ein Satz sticht hervor:

„As far as future decision-making processes are concerned, Germany would welcome if the influence of governments on international public policy matters was greater than having – at least officially – merely an advisory function.“

Der Einschub „at least officially“ sagt viel darüber aus, wie (nicht nur) die deutsche Regierung die Rolle des Beratenden Regierungskomitees GAC in der ICANN-Struktur sieht. Besonders deutlich war das zum Beispiel bei der ICANN-Entscheidung gegen eine Rotlicht-Domain .xxx zu sehen.

Das Statement endet übrigens mit der Hoffnung „that in the future the various organisations that are active in the field of Internet governance will cooperate more closely rather than work side by side or even against each other“. Weniger diplomatisch ausgedrückt: Wäre ganz schön, wenn ICANN und ITU nicht mehr abgrundtief verfeindet wären. So viel hat sich in den vergangenen Jahren also doch nicht geändert (die Vorgeschichte, Stand 2002).

I am root

USA wollen Domainnamen-Kontrolle behalten.

Wenn die Rootzone-Datei des Domainnamensystems geändert wird, verschwinden zwar keine Länder von der Karte, aber gegebenenfalls Länderendungen wie .de oder .me aus dem Domainnamensystem — mit gravierenden Folgen. Derzeit gilt: Keine Änderung dieser Datei ohne Genehmigung des US-Handelsministeriums. Und das gilt nach dem Willen des Ministeriums wohl auch in Zukunft: „[T]he Department (…) has no plans to transition management of the authoritative root zone file to ICANN as suggested in the PSC documents“, schrieb die zuständige Behörde am Mittwoch an die Internetverwaltung ICANN. Mit „PSC documents“ sind eine Reihe von Plänen einer ICANN-Arbeitsgruppe gemeint, mit denen das institutionelle Vertrauen in die Internetverwaltung gestärkt werden soll. Die Frist für öffentliches Feedback dazu läuft an diesem Donnerstag ab.

Gefunden bei Bret Fausett, einem der Veteranen der ICANN-Beobachtung. Er freut sich sichtlich, dass das Ministerium Klartext redet: „Here at Lextext Central, we’ve known this forever, and people close to the ICANN process have known it too.“

(Dass diese erst einmal dramatisch erscheinende Rolle der Root-Herrscher eine gezähmte Macht ist, war übrigens vor längerer Zeit einmal Thema bei Wortfeld.)