Kalte Füße

Der Blogger, das Gold und die Startbahn.

Eine Vorwarnung: Das hier ist eine Geschichte über Island, es wird also ziemlich kalt. Außerdem enthält sie ein Rätsel, das auch am Ende noch nicht gelöst ist. Zum Trost lernen wir dafür ein paar Brocken Isländisch.

Kiste mit isländischer Flagge und goldenen Spuren

Es geht abermals um die Geschichte des Redakteurs, der sich im Spiegel beklagt, dass sein Sohn keine Zeitung mehr liest. Ralf Hoppe führt gegen das Internet an, die Isländer hätten die Finanzkrise ihres Landes deshalb nicht verstanden, weil es dort keine guten Journalisten mehr gegeben habe, sondern „Blogs und Volksreporter“. Das belegt er anschaulich:

„Gerüchte flammten auf, die Regierung würde zum Beispiel die Goldschätze aus der Zentralbank ins Ausland bringen, alle Isländer müssten am nächsten Morgen auf dem Flughafen stehen und die Startbahn blockieren, dieser Aufruf machte die Runde. Es war eisiger Winter. Und die Regierung hatte nicht im Traum daran gedacht, irgendwelche Goldschätze in Milliardenhöhe ins Ausland zu bringen. Aber die Isländer machten sich in der Nacht auf, blockierten ebenso tapfer wie sinnlos anderthalb Tage die Startbahn, bis alle steifgefroren waren. Der Erfinder dieses Gerüchts, der Blogger, wer immer es war, hat eine Menge kalter Füße und Blasenentzündungen zu verantworten.“

Wir sehen die Szene vor Augen: Hunderte, wenn nicht Tausende Isländer, die stundenlang in dicken Isländerpullovern auf einer verschneiten Rollbahn stehen. Womöglich wären sie längst nach Hause gegangen, wenn da nicht immer neue Fotografen und Kameraleute gekommen wären. Und „der Blogger, wer immer es war“, sitzt gemütlich im Wohnzimmer am Computer und trinkt heißen Tee. (Tee heißt übrigens te auf Isländisch. Isländisch ist nicht immer schwierig.)

Ein absurder Vorfall, zu dem es mit Sicherheit jede Menge Berichte gegeben hat. Oder: haben müsste. Aber ein paar erste Suchversuche mit Kombinationen von Island, Flughafen, Blockade, Zentralbank, Gold, Startbahn führen ins Nichts. Wer es auf Englisch probiert, wird leider auch nicht schlauer.

Dank Internet ist der Weg zu einem Isländisch-Wörterbuch ja kurz: Das isländische Wort für Landebahn ist flugbraut. Die Zentralbank heißt seðlabanka, mit einem drolligen ð, und der internationale Flughafen Keflavik nennt sich Keflavíkurflugvöllur. Aber auch wenn wir so wunderschöne Wörter in die leitarvél, pardon: Suchmaschine eingeben, bleibt die Startbahn-Story unentdeckt.

Es hilft nichts: Fragen wir Isländer. Und mit „wir“ ist auch Bastian Brinkmann gemeint, Wirtschaftsredakteur bei Süddeutsche.de. Da ihn ebenfalls das Rollbahngoldfieber gepackt hat, fragt er Baldur Hedinsson, einen Mathematiker, der bei der renommierten NPR-Sendung „Planet Money“ ein Praktikum gemacht hat. Hedinsson, der Island-Erklärer für NPR, sagt, dass er von der Geschichte noch nie etwas gehört hat: „I’d be amazed if it ever happened.“ Er hat auch noch mal herumgefragt, ebenso erfolglos.

Guðjón Már Guðjónsson hat 2010 das Isländische Nationalforum nach der großen Krise mitorganisiert. Die Flughafenbesetzung? „I have never heard this story before“. Er fragt bei seinen Facebook-Freunden nach und erntet dafür 28 Likes und neun Smileys. (Einer schlägt vor, mir gephotoshoppte Bilder von eingefrorenen Demonstranten zu schicken. Das stößt auf Zuspruch.)

Wir können auch Isavia fragen, das ist die Gesellschaft, die Islands Flughäfen betreibt. Dort ziert man sich nicht, auf die merkwürdige Anfrage zu reagieren: Das sei eine großartige Geschichte, schreibt mir der Isavia-Sprecher sofort zurück, bedauerlicherweise ohne ein Fünkchen Wahrheit, aber dennoch großartig.

Aber was nützt schon das Dementi von 30 Isländern, wenn es mehr als 300.000 von ihnen gibt? Vielleicht war es ja ein besonders kleiner und abgelegener Flughafen, bei dem ein Dutzend willensstarke Leute genügen zum Blockieren; vielleicht hat die Presse nie davon Wind bekommen. Aber so klingt die oben zitiere Textpassage eigentlich nicht. (Ein Rätsel heißt übrigens ráðgáta auf Isländisch.)

Der Spiegel-Autor hat die Anekdote gewählt, um zu zeigen, wie „eine vernetzte, bloggende Gesellschaft“ wie Island endet, wenn die althergebrachten Medien schwächeln.

„Darauf lief es hinaus: kalte Füße, und das Fehlen der vierten Gewalt. Eine neue Ungenauigkeit. Ich hoffe, man wird sich daran nicht gewöhnen müssen.“

Wie schon am Anfang angekündigt, bleibt das Rätsel um den Blogger, das Gold und die Startbahn am Ende ein Rätsel. Ich fürchte, bei mir hat das Plädoyer für die „knisternden“ Medien, um die es dem Autoren ja geht, eher für mehr Skepsis gesorgt. Aber das ist ja das Wunderschöne am Internet: Jeder, der mag, kann ja selbst weitersuchen und Isländer fragen. Wenn jemand fündig wird, bekommt die Geschichte ein neues Ende.

(Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass ich kurz im Mailkontakt mit dem Autoren stand, aber daraus nichts veröffentliche. Wir sind hier ja nicht bei den Piraten.)

Nachtrag: Im Spiegelblog äußert sich jetzt der Autor Ralf Hoppe zur Kritik.

(Ein paar andere haben darauf schon reagiert: Detlef Gürtler schreibt von einer Fast-Entschuldigung und hat nicht den Eindruck, die deutschen Medien hätten die Finanzkrise verlässlicher und vertrauenswürdiger begleitet als die isländischen. Dirk von Gehlen sieht die Angelenheit als Indiz dafür, wie das Netz den Journalismus und den Journalistenberuf verändert. Felix Schwenzel findet Hoppes Antwort trotzig und selbstmitleidig und liest in ihr, wie sich der gefühlte Bedeutungsverlust einer einst allmächtigen Redaktion wiederspiegelt.)

Die Geschichte auf Island hat jetzt also doch ein Ende bekommen. Der Nachsatz mit dem Mailkontakt, der offenbar bei manchen wilde Spekulationen ausgelöst hat, kann weg, jetzt, wo sich der Autor selbst zu Wort meldet. Die Demonstranten habe er selbst Anfang 2009 in Reykjavík gesehen, schreibt er; sie seien da gewesen, um die Startbahn zu blockieren, hätten aber ihr Vorhaben nicht umgesetzt. Dass einige Demonstranten vor dem Flughafengebäude keine tiefen Spuren hinterlassen haben, verwundert nicht. Wie daraus eine anderthalb Tage lange Blockade geworden ist, ist mir weiterhin nicht ganz klar. Hoppe verweist auf seinen (im Spiegelblog nicht verlinkten) Artikel Das Crash-Labor von 2009. Dort spielen Flugzeuge und Gerüchte auch eine Rolle, aber es geht nicht ums Gold der Zentralbank, sondern um Privatleute und Koffer voller Bargeld. Aber wer will schon Gerüchte nachrecherchieren? Und wenn der Autor selbst der Augenzeuge ist, kann auch die renommierte Spiegel-Dokumentation ein Geschehnis weder be- noch widerlegen. Insofern ist es an der Zeit, das Island-Kapitel zuzuklappen.

Gib mir ein B!

Eine kleine Erinnerung an Blogger.com.

Powered by Blogger

Vor zehneinhalb Jahren habe ich Blogger.com gerettet. Oder zumindest habe ich es probiert.

Etwas über 40 Mark habe ich damals in zwei 10-Dollar-Scheine getauscht und in einen Umschlag gesteckt, dazu ein Blatt schwarzes Papier, damit die Scheine nicht zu sehen sind. Brief und Geld landeten bei Pyra Labs in San Francisco, der Firma hinter Blogger.com, die von den gesammelten Spenden neue Server kaufen wollte. Aber es war auch klar, dass es um mehr als Server geht: Blogger war damals ein kostenloser Dienst, Pyra Labs eine kleine Firma mit fünf Leuten, Geschäftsmodelle („Blogger Pro“) lediglich in Planung.

Ende Januar 2001, knapp einen Monat nach dem Spendenaufruf, schrieb Blogger-Mitgründer Evan Williams auf, dass die Wahrheit noch düsterer aussieht: We are out of money, and I have lost my team. Blogger.com war plötzlich nur noch eine Person, und die anderen, die nicht mehr Blogger.com waren, bloggten darüber.

Ich war begeisterter Blogger-Nutzer seit Juli 2000. Eine Webseite ins Netz zu stellen, das war damals schon kein übermäßiges Problem. Aber eine Website aktuell zu halten, das war kein Vergnügen: Erst die neue Seite basteln, händisch per HTML oder in einem hässlichen Programm. Dann die alten Seiten ändern, die Links auf die neue Seite enthalten sollen. Dann Grafiken und Seiten per FTP-Programm auf einen Server laden. Dann testen und entdecken, dass irgendwo noch eine spitze Klammer fehlt. Und dann kamen Blogger & Co. und machten das Aktualisieren so wunderbar leicht! Ins Netz zu schreiben war nicht mehr nur theoretisch möglich, sondern kostete nicht mehr als einen Klick auf „Post & Publish“.

Blogger und Pyra Labs hatten also einfach etwas Besseres verdient als den Untergang, das fand zum Glück nicht nur ich. Evan Williams bekam einen neuen Server und Blogger kam über die Runden, bis schließlich 2003 Google den Laden übernahm. „Blogger war nie perfekt, aber Blogger war ganz weit vorne“, schreibt Nico Lumma. Stimmt — die Blogger-Nutzerschaft ist nach und nach abgewandert, je nach Gemütslage und Technikliebe zu Radio UserLand und Movable Type und Typepad, Antville und twoday.net, Textpattern und WordPress, Tumblr und Posterous. Aber nie wieder zurück zu den Zeiten, wo Text ins Netz schreiben bedeutete, Dateien irgendwohin hochzuladen.

Google hat laut Mashable jetzt vor, die Marke Blogger.com einzumotten. Dann heißt es eben künftig „Google Blogs“, macht nichts, die Gründer und die meisten Nutzer von damals sind ohnehin längst auf und davon.

Als Dank für die Spende habe ich übrigens Wochen später einen Brief aus San Francisco bekommen. Den Aufkleber mit dem Blogger-B habe ich bis heute aufbewahrt, soeben eingescannt und in mein Blogsystem hochgeladen. Push-button publishing for the people — the revolution will be bloggerized!

Aufkleber mit dem Blogger.com-Logo

Zum Beispiel

Fünf Linktipps zwischendurch.

Es stimmt natürlich, was Jens Schröder schreibt: Viele Linktipps, die früher in Blogs gelandet wären, kommen jetzt über die Aufmerksamkeitsmaschine Twitter. Bei der man allerdings schon etwas verpasst, wenn man blinzelt.

Anna Pickard ist eine britische Journalistin, die vor einer Weile nach San Francisco gezogen ist. Auf Little Red Boat schreibt sie zum Beispiel darüber, wie viel Spaß man mit einem Foucault’schen Pendel und ein paar Cocktails haben kann.

Gabriel White, auch in San Francisco, ist ein Spezialist für Interaktionsdesign. Sein Blog Small Surfaces besteht aus meist kurzen Einträgen über Design für mobile Geräte, ist aber kein Gadget-Blog. Zum Beispiel verweist er darauf, wie man per Tastatur Rockgitarrist werden kann.

Matthias Spielkamp, der hinter dem grimmeprämierten iRights.info steckte, ist Journalist und Autor in Berlin. Er schreibt auf Immateriblog.de viel über Urheberrecht und die Film-, Musik- und Verlagsbranche, zum Beispiel über die vollmundige Ankündigung des deutschen E-Book-Portals Libreka.

Alfred Hermida gehört zu den Pionieren der BBC-Nachrichten im Netz und lehrt jetzt Journalistik in Vancouver. Die BBC-Online-Aktivitäten sind eines seiner Lieblingsthemen auf Reportr.net, es schreibt aber zum Beispiel auch über die Lage der US-Medien.

Andrew Vande Moere lehrt am Designlabor der Universität Sydney. Sein wunderschönes Blog Information Aesthetics zeigt zum Beispiel, was passiert, wenn man die neue Schnittstelle von NYTimes.com mit einem Rauchmelder verbindet.

Mission Gottesreich

Christlicher Fundamentalismus hierzulande.

Fundamentalistische Christen? Meine ersten Assoziationen: amerikanische Fernsehprediger, Jesus Camp, Jerry Falwell und Konsorten.

Dass einer dieser Prediger mit dem weltweit größten Publikum ein Deutscher ist, dass es auch für deutsche Schüler Lehrbücher für die biblische Schöpfungslehre gibt, dass in Deutschland 80 evangelikale Bekenntnisschulen existieren und dass der Einfluss der bibeltreuen Evangelikalen in den deutschen Landeskirchen zunimmt, ist in den Medien nicht ganz so häufig zu lesen. (Um einen Äpfel-Birnen-Vergleich zu wagen: Die katholische Piusbruderschaft, die wochenlang für Aufsehen sorgte, soll in Deutschland angeblich rund 30.000 Anhänger um sich scharen. Die Deutsche Evangelische Allianz, ein Dachverband der Evangelikalen, sieht sich dagegen als Repräsentant von 1,3 Millionen Menschen.)

Zwei geschätzte Journalistenkollegen, Oda Lambrecht und Christian Baars, haben sich auf die Spurensuche gemacht, Interviews geführt, Bücher, Predigten und Internetforen ausgewertet. Das Ergebnis liegt jetzt als Buch vor, begleitet von einem Weblog, für das ich hier gern Reklame mache: Mission Gottesreich – Fundamentalistische Christen in Deutschland. Im Blog sammeln sie Neuigkeiten zum Thema und Reaktionen auf das am Freitag erschienene Buch, außerdem gibt es natürlich Leseproben, Hintergründe und Linksammlungen.

Eckstein

Der BBC-Finanzblogger Robert Peston.

Robert Peston, der leitende Wirtschaftsredakteur der BBC, ist so etwas wie das Gesicht der Finanzkrise für die Briten geworden: Dass Northern Rock in Schwierigkeiten war, erfuhren sie von ihm – und hoben ihr Geld ab. Dass Lloyds TSB die angeschlagene HBOS übernehmen will, meldete ebenfalls Peston – und der Aktienkurs stieg in 45 Minuten um fast 150 Prozent. („Will everyone please stop praising Robert Peston?“, schrieb Bill Blanko im Oktober.)

Den Lloyds-HBOS-Scoop meldete Peston übrigens zuerst in seinem BBC-Weblog, das es seit Ende Januar 2007 gibt. Auf der BBC Future of Journalism Conference wurde er gefragt, warum er bloggt. Seine Antworten, zusammengefasst zu finden bei Jem Stone, sind bemerkenswert. Als Leseanreiz: „I do see the blog as the absolute cornerstone of the way that I work. It’s central to everything that I do at the BBC.“ (Via reportr.net.)