Wikigoliath

Fehlwahrnehmungen im Fall Heilmann.

Auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen: Noch einmal zu Lutz Heilmann.

In Blogs und Onlinemedien tauchen immer wieder drei Annahmen auf: 1. Es geht um Heilmanns Stasi-Vergangenheit. 2. Die Wikipedia ist im Recht. 3. Heilmann hat wohl nicht begriffen, was der Unterschied zwischen wikipedia.de und de.wikipedia.org ist. (Variante 3 ist bei Bloggern und Twitterern zu lesen, während zahlreiche Medien selbst nicht begriffen haben, was der Unterschied ist.)

Dass Punkt 1 so nicht stimmt, habe ich gestern geschrieben. Ob Punkt 2 letztendlich stimmt, kann ich schwer beurteilen; der derzeitige juristische Zwischenstand ist allerdings klar. Die angegriffenen Punkte scheinen inzwischen aus dem Wikipedia-Eintrag, den viele so stolz verlinken, verschwunden zu sein. Und bei Punkt 3 habe ich ebenfalls meine Zweifel: Juristisches Vorgehen gegen die Domain „wikipedia.de“ ist ein Holzhammer, mit dem man die volle Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Wikipedianer bekommt, ohne die eigentliche Wikipedia, also de.wikipedia.org, zu gefährden. Wenn jemand also dringend möchte, dass Unwahrheiten in der deutschsprachigen Wikipedia korrigiert werden, kann er es entweder in den USA probieren (wo die Wikimedia Foundation ihren Sitz hat) — oder eben über den „wikipedia.de“-Trick in Deutschland.

(Die Außenwahrnehmung der Wikipedia ist immer noch die eines kleinen, stets unterstützenswerten Projekts, der David-gegen-Goliath-Reflexe auslöst. Wer sich die Zugriffszahlen anschaut, wer sich die Nutzung unter Multiplikatoren anschaut, sieht, dass die Wikipedia längst selbst ein Riese ist. Reflexe aus, selber nachdenken.)

Nachtrag: Nachdem die beanstandeten Inhalte jetzt aus dem Artikel verschwunden sind, hat Heilmann die juristische Auseinandersetzung für beendet erklärt.

Begründungslos

Berichte zum Fall Heilmann vs. Wikipedia.

Lutz Heilmann hat wikipedia.de sperren lassen — aber warum? Ein Blick auf die Berichterstattung bei Spiegel Online, heise online und Zoomer.de:

  • Spiegel Online garniert den Artikel mit viel Meinung („Servicewüste Deutschland“, „Negativ-PR“), schweigt aber zu den Hintergründen: „Da die Verbreitung der strittigen Passagen der einstweiligen Verfügung unterliegt, verzichtet SPIEGEL ONLINE auf eine detaillierte Widergabe.“ Stattdessen wird lang und breit über die Stasi-Vergangenheit Heilmanns berichtet. Wer Spiegel Online liest, muss also denken, dass es Heilmann beim Streit vor allem darum geht. Aber wieso ist dann die Spiegel-Berichterstattung zum selben Thema noch online?
  • Heise Online mutmaßt zumindest, dass es auch um etwas anderes geht: „In dem Streit geht es offenbar um in der Wikipedia zitierte Berichte, wonach die Immunität des Abgeordneten im Oktober aufgehoben worden sei, weil er einen Bekannten per SMS bedroht haben soll.“ Heilmanns Gegendarstellung zu einem Artikel in den Lübecker Nachrichten ist verlinkt. In einem Update am Ende kommt Heilmann selbst zu Wort.
  • Erstaunlich, aber wahr: Zoomer-Leser wissen mehr. Es gehe um den „Vorwurf, dass Heilmann an einem Online-Sex-Shop beteiligt sei“, dass Heilmann „einen Ex-Freund bedroht habe“, „dass er sein Jura-Studium abgebrochen habe“ und „dass er die Einsicht in seine Stasi-Akte verweigern würde“. Zoomer hat einfach mit Heilmann gesprochen.

(Warum Spiegel Online überhaupt über den Fall berichtet, wenn es nicht vorhat, die Hintergründe zu erklären, ist mir rätselhaft. Immerhin profitiert Wikimedia Deutschland.)

Nachtrag: Fortsetzung hier.

Momentaufnahme

Südossetien in der Wikipedia.

  • Das im Kaukasus gelegene Gebiet Südossetien (…) ist ein „stabilisiertes De-facto-Regime“, das völkerrechtlich jedoch Teil Georgiens ist.
  • Südossetien ist eine autonome Region Georgiens.
  • Südossetien (…) war ein autonomer Oblast [?] in Georgien in der Sowjetunion.
  • Südossetien (…) ist der Name des nordwestlichen Teils Georgiens.
  • Die Republik Südossetien (…) ist eine faktisch unabhängige Republik innerhalb Georgiens.
  • Republik Südossetien (…) ist der Name einer abtrünnigen Republik auf dem Gebiet der Republik Georgien.
  • Südossetien ist eine autonome Provinz Georgiens, überwiegend gebirgig und reich an Torrenten [?].
  • Südossetien (…) ist ein selbsterklärter Staat im Kaukasus.
  • Südossetien (..) ist eine Region im Südkaukasus, früher bezeichnet als Autonomer Oblast Südossetien innerhalb der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik, von dem ein Teil seit seiner Unabhängigkeitserklärung als Republik Südossetien während des ossetisch-georgischen Konflikts zu Beginn der 1990er-Jahre faktisch unabhängig von Georgien ist.
  • Südossetien (…) ist ein Ort in Georgien.
  • Südossetien (…) im Norden des Kaukasuslandes Georgien war in den Zeiten der früheren Sowjetunion eine autonome Präfektur der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
  • Die Republik Südossetien ist eine nicht anerkannte Republik, die rechtlich gesehen Teil Georgiens ist (in Form von Teilen vier unterschiedlicher Regionen), aber faktisch selbstverwaltet ist.
  • Südossetien ist eine Gegend im Kaukasus.

Zur Einordnung: Das ist jeweils nur der erste Satz des aktuellen Südossetien-Artikels in mehreren Sprachversionen der Wikipedia. In vielen Fällen wurde der Status im weiteren Verlauf des Artikels genauer erläutert. Die chinesische, japanische und russische Übersetzung stammen vom Babelfisch.

Flughafen A29

Autobahn-Notlandeplätze in der Wikipedia.

Wie frustrierend muss das für einen KGB-Spion sein, der vor dreißig Jahren hohe Risiken für eine Liste und für Luftbilder westdeutscher Autobahn-Notlandeplätze eingegangen ist: Die Wikipedia hat sogar die Koordinaten parat.

Wikis vor 1900

Freiwillige Helfer ermöglichten das OED.

Every day, librarians around the world turn to the Oxford English Dictionary (OED) as the definitive resource. This trusted authority, however, has a shocking secret — the venerable OED began life as a wiki. Well, sort of.

Bibliothekar Chris Harris, der das in einem Artikel über den Umgang mit der Wikipedia schreibt, hat Recht: Das von 1884 bis 1928 herausgegebene, wichtigste Wörterbuch der englischen Sprache begann mit einem Appell an die Englisch sprechende und lesende Öffentlichkeit „to read books and make extracts“ (Faksimile von 1879). Ein besonders wichtiger freiwilliger Helfer, der Zitatzettel für das Wörterbuch sammelte, war übrigens William Chester Minor, Insasse des psychiatrischen Hochsicherheits-Krankenhauses Broadmoor.