Akten für alle

Crowdsourced Journalism beim Guardian.

Wer sehen will, wie eine großartige Zeitung ihre Leser einspannen kann, um riesige Datenmengen zu durchforsten, findet beim Guardian ein grandioses Beispiel. Die Spesenabrechnungen der britischen Parlamentarier, die seit Wochen für Schlagzeilen sorgen, sind von der Parlamentsverwaltung eingescannt und veröffentlicht worden. Insgesamt sind es rund 700.000 Dokumente. Der Guardian hat eine Website, mit der dem Nutzer ein zufällig ausgewähltes Dokument angezeigt wird, das er bewerten soll: Handelt es sich um ein Spesenformular oder eine Rechnung? Ist das Dokument spannend, unwichtig oder bereits bekannt? Die Nutzer sollen sogar die Daten von der Rechnung in ein Textfeld eintippen. Wer mag, kann sich statt eines zufällig ausgewählten Abgeordneten auch direkt seinen eigenen Parlamentarier vorknöpfen.

guardianmps

Warum machen Nutzer das? Weil es bei wenigen Dokumenten wenig Mühe macht, weil Detektivarbeit Spaß macht und weil der Nutzer sich womöglich an der Aufdeckung eines Skandals beteiligt. Warum macht die Zeitung das? Weil es die eigene Arbeit durch Vorsortierung erleichtert, weil es die Leser begeistert und weil es die Zugriffe auf das Onlineangebot steigert. Ein Gewinn für beide Seiten.

Nachtrag: Wie die Anwendung entstanden ist und was bislang entdeckt wurde.

Nachtrag: Im Vorfeld hatte nur der Telegraph die Spesen-Akten zugespielt bekommen und daraus Tag für Tag ein Titelthema gewonnen. Milo Yiannopoulos schrieb am 2. Juni: „I’d like to see a ‚messy‘ collective of Kool-Aid slurping Wikipedians conduct the sort of rigorous analysis necessary for the Telegraph’s recent MPs‘ expenses investigation. Can you imagine social media achieving anything like it? Of course you can’t: great journalism takes discipline and training (…)“ Mittlerweile haben beim Guardian übrigens 20.000 Nutzer 160.000 Seiten untersucht.

Wie die Wolken

Der legendäre SPD-Europawahlspot von 1989.

Dass hier ein gewisses Interesse an Wahlwerbespots vorhanden ist, dürften aufmerksame Leser schon bemerkt haben. Jetzt ist endlich ein SPD-Europawahlspot von 1989 bei YouTube aufgetaucht, nach dem ich alle paar Monate suche.

Barbara Sichtermann schrieb damals in der Zeit über ihn: „‚Wir wollen wie die Wolken sein‘, zirpen tanzende Teenies, machen es aber leider nicht wahr und zappeln weiter, anstatt zu entschweben.“ Ein anderer Zeit-Autor fasste das Geschehen wie folgt zusammen: „(J)ugendliche Sänger mit modischem Diskant“ „hampeln (…) auf einer Wiese“.

Der Spot und der Song haben sich aber nicht nur bei mir im Gedächtnis festgekrallt. Elke Wittich hat in einem Jungle-World-Artikel von 1998 noch „entfesselt-fröhliche Jungwähler“ in Erinnerung, allerdings klingt die Melodie nun wirklich nicht verdächtig nach „Give peace a chance“. Christoph Schurian von den Ruhrbaronen erinnert sich 20 Jahre später an „Horden junger Menschen, an viel Sonne, grünes Land, hüpfende blau-gelbe Weltkugeln, Hans-Jochen Vogel, Rau und Lafontaine“. Dem Spot wurde 1991 sogar ein Aufsatz in einem Fachbuch über Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik gewidmet.

Die Musik stammt vom Axel-F.-Komponisten Harold Faltermeyer; Ralf Zilligen, damals bei der SPD-Werbeagentur von Werner Butter, hat mitgetextet.

Aber genug der Worte — hier ist „Wir sind Europa“:


Direktlink zum Video

Auf Piratensuche

Hochburgen und Diaspora der Piratenpartei.

Kurz vor der Europawahl haben sich einige geschätzte Blogger dazu bekannt, diesmal für die Piratenpartei zu stimmen.

Ich habe mir ein paar Daten vom Bundeswahlleiter zu den Piratenpartei-Wählern angeschaut. Es gibt dort natürlich kein soziodemografisches Profil der einzelnen Wähler, aber ein paar Strukturdaten zu den 413 Wahlkreisen. In genau 64 Wahlkreisen erhielt die Piratenpartei 1,00 Prozent oder mehr, in 64 anderen Wahlkreisen erhielt sie weniger als 0,60 Prozent. Wie unterscheiden sich Piraten-Hochburgen und Piraten-Diaspora?

In den Piratenpartei-Hochburgen gibt es mehr junge Erwachsene, aber weniger Kinder.
Grafik zur Altersstruktur

In den Piratenpartei-Hochburgen liegt die Bevölkerungsdichte deutlich höher.
Grafik zur Bevölkerungsdichte

In den Piratenpartei-Hochburgen ist der Anteil der Abiturienten deutlich höher.
Grafik zum Bildungsstand

In den Piratenpartei-Hochburgen haben die Grünen auf sehr hohem Niveau ein bisschen verloren.
piraten-gruene

Und wo liegen die Hochburgen denn nun? Die Piratenpartei ist vor allem eine Partei der Universitätsstädte. (Ausnahmen bestätigen die Regel, beispielsweise Bayreuth und Passau mit einem extrem niedrigen Piratenpartei-Anteil und dafür vielen Stimmen für die Freien Wähler.)
Grafik zu den Wahlkreisen

(Bevor jemand fragt: Nein, diese Grafiken habe ich nicht noch einmal in einem anderen Format. Wer selbst mit den Zahlen arbeiten möchte, findet die Daten auf der Website des Bundeswahlleiters. Achtung, gleich folgt ein Trennstrich.)

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(Das war der Trennstrich zwischen Wahldatenanalyse und Meinung.)

Dass die Piratenpartei das Ergebnis als „beachtlichen Erfolg“ feiert, sei ihr gegönnt: Angesichts des kurzen Bestehens ist es beachtlich — aber eben für eine Splitterpartei. Sie hat die Fünfprozenthürde um 4,1 Prozentpunkte verfehlt und ist hinter den Freien Wählern, den Republikanern, der Tierschutzpartei und der Familien-Partei auf dem elften Platz gelandet. Bei einer Europawahl wohlgemerkt, also da, wo Wahlberechtige eher einmal zum Protestwähler werden.

Es ist eine Partei, deren Grundsatzprogramm sich allein auf Netzpolitik konzentriert, die aber selbst auf ihrem einzigen Gebiet weder organisatorisch noch inhaltlich prägend wirkt. Ausführliches dazu im Notizblog.

Sie ist zugleich eine von nur zwei Parteien (die andere ist die Rentnerpartei), die zur Europawahl keine einzige Bewerberin aufgestellt hat. Der Bundesvorstand besteht nur aus Männern; die Landesvorstände von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein bestehen, soweit ihre Websites aktuell sind, nur aus Männern. In Hessen gibt es eine Generalsekretärin, die übrigen Landesverbände sind noch nicht gegründet.

Dass keiner der Piratenpartei-Leute bei einem Fernsehinterview an der Frage scheitert, was ein Browser ist, ist klar. Wie das bei anderen Themen von A wie Afghanistan bis Z wie Zuwanderung aussieht, kann ich noch nicht beurteilen.

Digitale Bürgerrechte sind sehr wichtig, keine Frage — aber bitte nicht die Bedeutung des Themas mit der Bedeutung einer dazu gegründeten Ein-Themen-Partei verwechseln. Das kann böse enden.

Abgeschnitten

Urheberrecht, E-Books und Zugangssperren.

„Kann es gerechtfertigt sein, Bürger einer Informationsgesellschaft vom Internet auszuschließen? Hätte man vor zwanzig Jahren in Erwägung gezogen, jemanden damit zu bestrafen, dass man ihm gleichzeitig Telefon, Fernseher, Radio und die Lektüre von Zeitungen verbietet?“

Till Kreutzer im Interview zu den Überlegungen des deutschen Buchhandels, Urheberrechtsverletzungen auch mit Sperrung des Internetzugangs zu bestrafen (gefunden bei Immateriblog)

Missverständnisse

Social Media bei der SPD Hamburg.

Bei der Podiumsdiskussion über Social Media, zu der die SPD-Bürgerschaftsfraktion am Montagabend geladen hatte, prallten in der Tat Welten aufeinander. Stefan Engels (Anwalt, Arbeitskreis Medien der SPD Hamburg) und Michael Neumann (SPD-Fraktionschef, Blogger) warben vergeblich um Verständnis dafür, dass sich ihre Partei gegenüber neuen Entwicklungen im Netz so zögerlich zeigt. Juliette Guttmann von DerWesten, Nico Lumma und Teile des Publikums versuchten vergeblich, für mehr Mut zu werben.

Die anwesenden Politiker verwiesen mehrfach auf die „Spielregeln der Politik“, die (neben Budget- und Personalknappheit) ein stärkeres Engagement kaum möglich machten. Nicht so richtig angekommen ist, dass sich Spielregeln in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen ändern — natürlich nicht komplett, aber eben auch nicht nur unwesentlich. Wer in der Musikindustrie oder der Filmbranche arbeitet, wer Zeitungen oder Zeitschriften verlegt, wer PR-Beraterin ist oder Buchhändler oder Pressefotografin oder Lexikonvertreter oder Lehrerin oder Bibliothekar, findet eine Welt vor, die sich seit dem Internet erheblich verändert hat. Da kann die Politik, in der Kommunikation so eine zentrale Rolle spielt, erstens nicht erwarten, dass ihre Spielregeln unverändert bleiben. Und darf zweitens nicht glauben, dass es für die anderen leichter sei: Auch Privatpersonen und Firmen fragen sich, wie viel Transparenz an welcher Stelle too much ist.

Die vorgetragene große Sorge, dass grundsätzlich einmal alles im Netz dokumentiert bleibt, ist ebenso übertrieben. Zum einen gilt das eben auch für alle, also auch für die Politiker gegnerischer Parteien, Journalisten, Verbände, Unternehmen, Initiativen — und natürlich auch für jeden Nutzer. Und zum zweiten ist Rückzug keine Alternative: Wenn Michael Neumann seinen Wunsch nach einem Verfallsdatum für Netzinhalte nicht selbst ins Internet schreibt, tut das eben jemand anders.

(Nur, damit niemand die Selbstverständlichkeit aussprechen muss: Dass ein schlechtes politisches Programm nicht zu retten ist, in dem man bloß darüber bloggt, flickrt, twittert, qikt, mogulust oder yammert, ist sonnenklar.)

Nachtrag: Mehr bei Nico Lumma und Jan Schmidt.