Kalte Füße

Der Blogger, das Gold und die Startbahn.

Eine Vorwarnung: Das hier ist eine Geschichte über Island, es wird also ziemlich kalt. Außerdem enthält sie ein Rätsel, das auch am Ende noch nicht gelöst ist. Zum Trost lernen wir dafür ein paar Brocken Isländisch.

Kiste mit isländischer Flagge und goldenen Spuren

Es geht abermals um die Geschichte des Redakteurs, der sich im Spiegel beklagt, dass sein Sohn keine Zeitung mehr liest. Ralf Hoppe führt gegen das Internet an, die Isländer hätten die Finanzkrise ihres Landes deshalb nicht verstanden, weil es dort keine guten Journalisten mehr gegeben habe, sondern „Blogs und Volksreporter“. Das belegt er anschaulich:

„Gerüchte flammten auf, die Regierung würde zum Beispiel die Goldschätze aus der Zentralbank ins Ausland bringen, alle Isländer müssten am nächsten Morgen auf dem Flughafen stehen und die Startbahn blockieren, dieser Aufruf machte die Runde. Es war eisiger Winter. Und die Regierung hatte nicht im Traum daran gedacht, irgendwelche Goldschätze in Milliardenhöhe ins Ausland zu bringen. Aber die Isländer machten sich in der Nacht auf, blockierten ebenso tapfer wie sinnlos anderthalb Tage die Startbahn, bis alle steifgefroren waren. Der Erfinder dieses Gerüchts, der Blogger, wer immer es war, hat eine Menge kalter Füße und Blasenentzündungen zu verantworten.“

Wir sehen die Szene vor Augen: Hunderte, wenn nicht Tausende Isländer, die stundenlang in dicken Isländerpullovern auf einer verschneiten Rollbahn stehen. Womöglich wären sie längst nach Hause gegangen, wenn da nicht immer neue Fotografen und Kameraleute gekommen wären. Und „der Blogger, wer immer es war“, sitzt gemütlich im Wohnzimmer am Computer und trinkt heißen Tee. (Tee heißt übrigens te auf Isländisch. Isländisch ist nicht immer schwierig.)

Ein absurder Vorfall, zu dem es mit Sicherheit jede Menge Berichte gegeben hat. Oder: haben müsste. Aber ein paar erste Suchversuche mit Kombinationen von Island, Flughafen, Blockade, Zentralbank, Gold, Startbahn führen ins Nichts. Wer es auf Englisch probiert, wird leider auch nicht schlauer.

Dank Internet ist der Weg zu einem Isländisch-Wörterbuch ja kurz: Das isländische Wort für Landebahn ist flugbraut. Die Zentralbank heißt seðlabanka, mit einem drolligen ð, und der internationale Flughafen Keflavik nennt sich Keflavíkurflugvöllur. Aber auch wenn wir so wunderschöne Wörter in die leitarvél, pardon: Suchmaschine eingeben, bleibt die Startbahn-Story unentdeckt.

Es hilft nichts: Fragen wir Isländer. Und mit „wir“ ist auch Bastian Brinkmann gemeint, Wirtschaftsredakteur bei Süddeutsche.de. Da ihn ebenfalls das Rollbahngoldfieber gepackt hat, fragt er Baldur Hedinsson, einen Mathematiker, der bei der renommierten NPR-Sendung „Planet Money“ ein Praktikum gemacht hat. Hedinsson, der Island-Erklärer für NPR, sagt, dass er von der Geschichte noch nie etwas gehört hat: „I’d be amazed if it ever happened.“ Er hat auch noch mal herumgefragt, ebenso erfolglos.

Guðjón Már Guðjónsson hat 2010 das Isländische Nationalforum nach der großen Krise mitorganisiert. Die Flughafenbesetzung? „I have never heard this story before“. Er fragt bei seinen Facebook-Freunden nach und erntet dafür 28 Likes und neun Smileys. (Einer schlägt vor, mir gephotoshoppte Bilder von eingefrorenen Demonstranten zu schicken. Das stößt auf Zuspruch.)

Wir können auch Isavia fragen, das ist die Gesellschaft, die Islands Flughäfen betreibt. Dort ziert man sich nicht, auf die merkwürdige Anfrage zu reagieren: Das sei eine großartige Geschichte, schreibt mir der Isavia-Sprecher sofort zurück, bedauerlicherweise ohne ein Fünkchen Wahrheit, aber dennoch großartig.

Aber was nützt schon das Dementi von 30 Isländern, wenn es mehr als 300.000 von ihnen gibt? Vielleicht war es ja ein besonders kleiner und abgelegener Flughafen, bei dem ein Dutzend willensstarke Leute genügen zum Blockieren; vielleicht hat die Presse nie davon Wind bekommen. Aber so klingt die oben zitiere Textpassage eigentlich nicht. (Ein Rätsel heißt übrigens ráðgáta auf Isländisch.)

Der Spiegel-Autor hat die Anekdote gewählt, um zu zeigen, wie „eine vernetzte, bloggende Gesellschaft“ wie Island endet, wenn die althergebrachten Medien schwächeln.

„Darauf lief es hinaus: kalte Füße, und das Fehlen der vierten Gewalt. Eine neue Ungenauigkeit. Ich hoffe, man wird sich daran nicht gewöhnen müssen.“

Wie schon am Anfang angekündigt, bleibt das Rätsel um den Blogger, das Gold und die Startbahn am Ende ein Rätsel. Ich fürchte, bei mir hat das Plädoyer für die „knisternden“ Medien, um die es dem Autoren ja geht, eher für mehr Skepsis gesorgt. Aber das ist ja das Wunderschöne am Internet: Jeder, der mag, kann ja selbst weitersuchen und Isländer fragen. Wenn jemand fündig wird, bekommt die Geschichte ein neues Ende.

(Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass ich kurz im Mailkontakt mit dem Autoren stand, aber daraus nichts veröffentliche. Wir sind hier ja nicht bei den Piraten.)

Nachtrag: Im Spiegelblog äußert sich jetzt der Autor Ralf Hoppe zur Kritik.

(Ein paar andere haben darauf schon reagiert: Detlef Gürtler schreibt von einer Fast-Entschuldigung und hat nicht den Eindruck, die deutschen Medien hätten die Finanzkrise verlässlicher und vertrauenswürdiger begleitet als die isländischen. Dirk von Gehlen sieht die Angelenheit als Indiz dafür, wie das Netz den Journalismus und den Journalistenberuf verändert. Felix Schwenzel findet Hoppes Antwort trotzig und selbstmitleidig und liest in ihr, wie sich der gefühlte Bedeutungsverlust einer einst allmächtigen Redaktion wiederspiegelt.)

Die Geschichte auf Island hat jetzt also doch ein Ende bekommen. Der Nachsatz mit dem Mailkontakt, der offenbar bei manchen wilde Spekulationen ausgelöst hat, kann weg, jetzt, wo sich der Autor selbst zu Wort meldet. Die Demonstranten habe er selbst Anfang 2009 in Reykjavík gesehen, schreibt er; sie seien da gewesen, um die Startbahn zu blockieren, hätten aber ihr Vorhaben nicht umgesetzt. Dass einige Demonstranten vor dem Flughafengebäude keine tiefen Spuren hinterlassen haben, verwundert nicht. Wie daraus eine anderthalb Tage lange Blockade geworden ist, ist mir weiterhin nicht ganz klar. Hoppe verweist auf seinen (im Spiegelblog nicht verlinkten) Artikel Das Crash-Labor von 2009. Dort spielen Flugzeuge und Gerüchte auch eine Rolle, aber es geht nicht ums Gold der Zentralbank, sondern um Privatleute und Koffer voller Bargeld. Aber wer will schon Gerüchte nachrecherchieren? Und wenn der Autor selbst der Augenzeuge ist, kann auch die renommierte Spiegel-Dokumentation ein Geschehnis weder be- noch widerlegen. Insofern ist es an der Zeit, das Island-Kapitel zuzuklappen.

Im großen Topf

Wenn Spiegel-Söhne nicht genug lesen.

„Volksreporter – Wie sich das Leben verändern wird, wenn unsere Kinder keine Zeitung mehr lesen“: Ein Text im Print-Spiegel (6/2013), der so angekündigt wird, lässt nicht unbedingt Gutes erwarten. Ralf Hoppe, ein erfahrener Reporter und Redakteur, hat sich angeschaut, wo und wie sich sein Sohn und seine Freunde informieren: „Die Informationen, die sie brauchen, holen sie sich in den sozialen Netzwerken, via Twitter oder auf Facebook (…)“.

Ist das ein typischer Fall? Zur Mediennutzung von Jugendlichen gibt es eine etwas albern benannte Studienreihe namens JIM, eine repräsentative Befragung von Menschen zwischen 12 und 19 Jahren. Dass 91 Prozent der befragten Jugendlichen mehrmals pro Woche ins Netz gehen, davon 68 Prozent sogar täglich, passt ins Bild. Aber immerhin 41 Prozent geben an, mehrmals pro Woche eine Tageszeitung zu nutzen, 26 Prozent sogar täglich. Ebenfalls klar: Für 12- bis 13-Jährige hat die Zeitung keinen so hohen Stellenwert wie für 18- bis 19-Jährige. Das Renommee der Zeitungen ist übrigens auch unter Jugendlichen hoch: Wenn sich Medienberichte widersprechen, vertrauen junge Menschen der Zeitung mehr als Fernsehen, Radio oder Internet; dieser Vertrauensvorsprung ist unter Gymnasiasten noch viel stärker ausgeprägt. (Hier sind die Daten zum Nachlesen.)

Wie sieht der Trend aus?

Jugendliche lesen in der Tat allmählich seltener Zeitung, nutzen viel häufiger das Internet, dabei aber auch nur selten die Onlineangebote der Tageszeitungen.

Dass 41 Prozent der Jugendlichen öfters Zeitung lesen, hängt natürlich stark von den Eltern ab: 2012 hatten 59 Prozent der Haushalte mit Jugendlichen eine Zeitung abonniert.

Um die Jahrtausendwende hat sich aber noch etwas getan: 1998 sagte noch jede/r dritte Jugendliche, dass er oder sie zur Zeitung greift, um schnell Informationen zu suchen. 2002 war es nicht einmal jede/r zehnte Jugendliche. Umgekehrt stieg der Anteil derjenigen, die zum Computer greifen, von 19 Prozent auf 73 Prozent — in nur vier Jahren. Vermutlich steckt dahinter eine Vielzahl von Gründen: Die Zahl der Computer im Haushalt, die Zahl der eigenen Computer unter Jugendlichen, die Internet-Geschwindigkeit, womöglich auch die Verfügbarkeit von Google. Im Internet nach Informationen zu suchen, war für junge Menschen plötzlich einfacher.

Aber zurück zum Spiegel-Redakteur Ralf Hoppe und seinen Beobachtungen: „Nachrichten im sozialen Netz haben keinen Anfang, keinen Ursprung. Sie sind einfach plötzlich da. Erklärungslos, dafür meinungslastig, emotional.“ Da stellt sich die Gegenfrage: Was ist denn bei einer Nachricht in einer Zeitung der Ursprung? Die Zeitung? Dann kann ich es mir im Netz auch einfach machen und den Ort nehmen, an dem ich die Meldung zuerst gelesen haben — Quelle: Twitter. Aber eine Zeitungsmeldung kann natürlich ebenso auf einer Agenturmeldung beruhen, die auf einem Zeitungsbericht über eine Fernsehansprache beruht.

Dass die sozialen Netzwerke in sich geschlossen seien und nicht in die Onlinemedien-Welt zurück verlinkten, ist natürlich Unsinn: Vor allem Facebook ist für Onlinemedien eine wichtige Quelle von Besuchern. Wenn Ralf Hoppes Sohn über Facebook und Twitter auf etwas stößt, was ihn interessiert, und weiterklickt, dann landet er aber in der Tat am Ende bei einem Onlinemedium — das ist das Wesen der Internets. Die Zeitung wird erst dann Teil dieser Welt, wenn sie im Netz ist.

Meinungslastig und emotional: Da ist was dran. Reine Nachrichtenmeldungen schaffen es nur in Ausnahmefällen zu weitester Verbreitung, flammende Plädoyers und geschliffene Repliken haben viel bessere Chancen. Da machen soziale Netzwerke allerdings vermutlich etwas transparent, was auch schon in der Print-Welt galt, aber nicht sichtbar wurde. Für jemanden, der wie Hoppe Reportagen schreibt, muss das übrigens keine schlechte Nachricht sein.

Leider führt die Beobachtung den Spiegel-Autoren aber dann doch zur Generalabrechnung mit „dem Internet“: Soziale Netzwerke und Blogs und „das Medium“ werden in einen großen Topf geworfen. Dass Islands Blogger auf dem Höhepunkt der Finanzkrise womöglich auch nicht besser informiert waren als Zeitungen, Radio und Fernsehen, ist für ihn der Beleg, dass es bergab geht. Ja, natürlich sind Facebook und Twitter auch Gerüchte-Verstärker. Wer alles glaubt, was in der Bild-Zeitung steht, ist auch im Internet auf verlorenem Posten. Aber dafür wird sein Sohn, wenn er es richtig anstellt, mitunter nicht nur schneller, sondern auch vielseitiger darüber informiert sein, was ihn interessiert. (In einer Woche wird der Spiegel-Text ja online veröffentlicht, dann sieht ihn auch sein Sohn.)

Nachtrag: Dirk von Gehlen schreibt über die journalistische Familie: „Wer den Datenstrom der sozialen Netze mit einer italienischen Piazza vergleicht, sollte schon anerkennen, dass dort sehr wohl auch professionelle Journalisten herumspazieren und den Dialog mit ihren Nutzern suchen.“

Nachtrag: Ein Blick auf den Blogger, das Gold und die Startbahn.

Beispiel Island?

Crowdsourcing-Mythen um eine neue Verfassung.

In einer Pressemitteilung hat die Piratenpartei gerade Island zum Vorbild erklärt: Die Isländer stünden (am gestrigen Sonnabend, dem 20.10.2012) vor der Entscheidung, „ob ihre künftige Verfassung auf Vorschlägen basieren soll, die basisdemokratisch entstanden sind“. Johannes Ponader, der politische Geschäftsführer spricht von einem politischen Traum: „Die Isländer beweisen der Welt, dass Basisdemokratie funktioniert.“ Der Verfassungsentwurf sei „unter Einbeziehung der Bevölkerung und Verwendung von Crowdsourcing“ entstanden.

Die Kurzfassung: Bei näherer Betrachtung bleibt davon nicht mehr ganz so viel übrig. Aber wir haben hier ja auch Platz für ein bisschen mehr Erklärung.

Das isländische Referendum vom Sonnabend war nicht bindend, und abgestimmt wurde auch nicht über den finalen Verfassungstext. Die erste der sechs Fragen auf dem Stimmzettel lautete, ob die Vorschläge des Verfassungsrats die Grundlage für einen neuen Verfassungsentwurf bilden sollen. Laut vorläufigen Meldungen haben sich etwa 50 Prozent der Abstimmungsberechtigten beteiligt, davon haben rund 66 Prozent dafür gestimmt, den Vorschlag als Grundlage zu nehmen.

Jetzt ist erst einmal das isländische Parlament, das Althing, am Zuge.

Ist denn der Text durch Crowdsourcing entstanden? Vorgelegt haben ihn fünfzehn Männer und zehn Frauen, die im November 2010 vom Volk gewählt wurden. Die Wahlbeteiligung war dabei mit knapp 36 Prozent die geringste von allen landesweiten Wahlen seit Islands Unabhängigkeit 1944. Anfang 2011 wurde die Wahl für ungültig erklärt. Daraufhin hat das Althing aus der Verfassungsversammlung einen Verfassungsrat gemacht und die Wahlgewinner zu den Mitgliedern des Rats ernannt.

Sitzung des isländischen Verfassungsrats
Foto CC-by Stjórnlagaráð

Auf der Website des Verfassungsrats konnten Benutzer öffentliche Kommentare schreiben (etwas über 300 sind eingetroffen). Unter einzelnen von ihnen gibt es einen oder mehrere Facebook-Kommentare, darunter auch einige von Mitgliedern des Verfassungsrats. Auf der Facebook-Seite des Verfassungsrats selbst gibt es nur wenige Kommentare.

Die 19 Plenarsitzungen des Rats waren öffentlich, von den (bis zu 48) Sitzungen der drei Ausschüsse gibt es zumindest Protokollnotizen, von den Arbeitsgruppen gibt es sie nicht. In Sachen Transparenz sind die Unterschiede zu deutschen Parlamenten also nicht ganz so gewaltig.

Innovativer war dagegen eine andere Versammlung: das Nationalforum von 2010, das aus einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung entstand. 950 Isländerinnen und Isländer, deren Namen aus dem Einwohnerregister gezogen wurden, trafen sich dazu ein Wochenende lang in einer Sporthalle in Reykjavik und setzten sich grüppchenweise mit einem neutralen Moderator an einen Tisch.

Islands Nationalforum 2010
Foto CC-by-sa Stjórnlagaþing

Die Ergebnisse des Nationalforums lesen sich allerdings weniger spannend als das Konzept: Unter dem Eindruck der Banken- und Staatskrise forderten die Teilnehmer moralischeres Verhalten, mehr Ehrlichkeit und mehr Gleichheit. Es wird allerdings auch einigen Stellen etwas konkreter – begrenzte Amtszeiten für Abgeordnete, Referenden in wichtigen Fragen, zudem wird die Veto-Macht des isländischen Präsidenten infragegestellt.

Was ist vom Wochenende in der Sporthalle geblieben? Die Amtszeitbegrenzung findet sich im aktuellen Verfassungs-Vorschlag nicht wieder und der Präsident hat sein Veto behalten, dafür gibt es mehr Möglichkeiten für Referenden.

Jetzt beschäftigt sich also Islands Parlament mit der neuen Verfassung. Der Entwurf des Verfassungsrats sieht auf den flüchtigen Blick eines Nicht-Isländers aus wie eine moderne europäische Verfassung, Informations- und Pressefreiheit werden gestärkt, die Menschenrechte rücken an den Anfang der Verfassung. Auch die Isländer, die sich dafür interessieren, scheinen mit dem Vorschlag ja überwiegend zufrieden zu sein.

Ein „Beweis, dass Basisdemokratie funktioniert“ ist dieser isländische Verfassungsgebungsprozess allerdings nicht. Zum ersten ist das Interesse in der Bevölkerung nicht sonderlich groß, zum zweiten haben die repräsentativ ausgewählten Bürger im Nationalforum 2010 nur sehr vage Leitlinien aufgestellt, zum dritten war die Bevölkerung auch beim Verfassungsrat nicht besonders stark beteiligt.

Und schließlich darf man eben auch nicht vergessen, wie groß oder eben klein Island ist: Der Mediziner und Filmemacher Lýður Árnason war für 347 Isländer die erste Wahl, und das hat auch gerade noch für einen Platz im Verfassungsrat gereicht. In Reykjavik leben 100.000 Menschen, außerhalb davon noch einmal 200.000. Da hat Bielefeld mehr Einwohner als das ganze Land.

Recht mäßig

Wie weiter mit dem Leistungsschutzrecht?

Zu denen, die über das lange geforderte und nun auch geplante Leistungsschutzrecht staunen, zählt auch Stefan Niggemeier: „Wie die Verleger glauben können, dass es ihnen nützen wird und nicht schaden, Hinweise auf ihre Artikel zu erschweren, ist eines der zentralen Rätsel dieser ganzen Angelegenheit und Ausweis des Irrsinns, in den sich die Branche in ihrem Überlebenskampf geflüchtet hat.“

Was dieser Irrsinn bedeutet, haben andere schon ausführlich aufgeschrieben. Die spannende Frage: was passiert jetzt?

Szenario 1: Das Wunder
Nach der einhelligen Kritik überarbeitet die Regierung den Gesetzentwurf so, dass er nur noch die Gemeinten trifft: „Diese Regelung gilt ausschließlich für Internet-Giganten. Internet-Gigant im Sinne dieses Gesetzes sind Google und Perlentaucher.“ Der Perlentaucher wird daraufhin eingestellt, Google erwirbt eine Lizenz für alle deutschen Medien und die Verlage beteiligen die Autoren in angemessener Weise am erklecklichen Gewinn.
Wahrscheinlichkeit: Null.

Szenario 2: Der Proteststurm
Internet-Aktivisten freuen sich, nach dem bis zum Schluss nebulösen Thema ACTA endlich wieder einen klaren Feind serviert zu bekommen. Netzpolitiker aller Parteien riechen die Chance und setzen sich an die Spitze der Bewegung, auch um den Piraten das Feld nicht allein zu überlassen. Einige Verlage und einige Medien setzen sich deutlich ab. Der Entwurf wird verschleppt, bis die Legislaturperiode endet, danach ist die Regelung schneller vergessen als jemand „sachliches Diskontinuitätsprinzip“ sagen kann.
Wahrscheinlichkeit: hoch.

Szenario 3: Die Bauchlandung
Trotz des Proteststurms tritt das geänderte Gesetz in Kraft, die Verlage erklären aber, dass sie großzügig damit umgehen wollen. Nach anderthalb Jahren brechen Google und die Verleger ihre Preisverhandlungen ergebnislos ab. Zehn Tage später bereinigt das Unternehmen sein News-Angebot und die Suchmaschinen-Treffer auf Google Deutschland um Inhalte, die als „überwiegend verlagstypisch“ angesehen werden könnten. Über Google.com werden die Snippets weiterhin angezeigt. Die Zahl und Größe der übrigen Aggregatoren ist zu klein, um nennenswerte Einnahmen zu erzielen.
Wahrscheinlichkeit: relativ hoch.

Szenario 4: Die Selbstzerstörung
Völlig unbeeindruckt von der Kritik machen sich die Verleger daran, ihr neu gewonnenes Recht auszureizen. Anwaltsfirmen, die bereits erfolgreich im Dienste der Musikindustrie unterwegs sind, lassen eine amerikanische Plagiaterkennungs-Software für ihre Zwecke umprogrammieren und verschicken Abmahnungen für kurze Zitate, die nicht unter das Zitatrecht fallen, und für aktuelle Links mit Überschriften. Immer wieder werden kleine Blogger getroffen, von denen einige ihre Blogs schließen, die anderen aber hart zurückschlagen. Verfassungsbeschwerden, Boykottaufrufe und Internet-Kampagnen halten die Verleger auf Trab und fressen die geringen Einnahmen auf, die das Leistungsschutzrecht in die Kassen gespült hat.
Wahrscheinlichkeit: niedrig.

Verpasst

Dinge, die aus Mediatheken verschwinden.

Auf die Frage, warum Sendungen aus Mediatheken wieder verschwinden oder — die meisten Spielfilme zum Beispiel — dort nie landen, hat man als öffentlich-rechtlicher Onliner in Deutschland eine kurze, aber unschöne Antwort parat: Rundfunkstaatsvertrag. Der schreibt Verweildauern und Telemedienkonzepte mit Verweildauern vor, der verbietet angekaufte Spielfilme und Serien in den Mediatheken.

Und woanders? Als öffentlich-rechtlicher Onliner in Norwegen ist die Antwort ebenfalls unschön, aber dafür lang und kompliziert. Die Kollegen vom norwegischen Rundfunk haben im sehr geschätzten Blog nrkbeta.no probiert, das alles einmal zu erklären und sogar noch zu erzählen, warum das so ist, wie es ist. Sie haben dafür 16.000 Zeichen gebraucht.

Dass aus der NRK-Mediathek Nett-TV etwas herausfliegt, liegt dort nicht an Gesetzen. Es liegt manchmal daran, dass vor dem Internet logischerweise niemand Onlinerechte in die Verträge geschrieben hat. Eine nachträgliche Rechteklärung ist manchmal kaum möglich, manchmal auch einfach zu teuer. Manchmal liegen die Rechte nicht vor, weil NRK die Sendung von einer externen Firma gekauft hat oder weil es eine Lizenzausgabe einer ausländischen Sendung ist und die Verträge nur einen Monat Online-Verweildauer vorsehen. Und richtig komplex wird es, wenn es um Spielfilme und Serien geht. Ist es eine große Studio- oder eine Indie-Produktion? Erst nach dem dreimonatigen Blackout-Fenster nach dem zwölfmonatigen Pay-TV-Fenster nach dem zehnmonatigen DVD-Fenster ein halbes Jahr nach dem Kino-Start ist Free TV dran. NRK kauft dann beispielsweise das Recht, binnen vier Jahren einen Film zweimal zu zeigen, mit Wiederholung binnen sieben Tagen, und dann beim ersten Mal den Film 30 Tage im Netz anzubieten. Alles Weitere kostet extra.

Es gibt also offenbar kein Gesetz, das NRK davon abhalten würde, die Onlinerechte für Hollywood-Filme auch für längere Zeit zu kaufen und die Filme im Nett-TV zu zeigen. NRK macht es nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nicht. Was auch daran liegt, dass die meisten Mediatheks-Nutzer Sendungen nachschauen, nachdem sie gerade gelaufen sind.

(„Dann stellt doch einfach alles unter Creative Commons“ ist, zumindest heutzutage, nur eine Option für einen Bruchteil dessen, was im Fernsehen zu sehen ist, aus ähnlichen Gründen. Etwas unter Creative Commons stellen kann nur der Urheber, und das ist in vielen Fällen eben nicht der Fernsehsender.)

Auf nrkbeta.no endet der Artikel so: „Mit anderen Worten: Es liegt im Großen und Ganzen nicht in der Macht und/oder den finanziellen Möglichkeiten von NRK, Euch alles, was gesendet wird, für alle Zeit im Nett-TV zu geben. Aber es werden einige Gedanken gedacht und es passieren Dinge. Mehr dazu später.“ Ich bin gespannt.

(Transparenzhinweis: Ich kümmere mich beim NDR unter anderem um die Mediathek, das hier ist aber mein privates Blog.)