Exklusive Kehrtwende

Namen, Fotos und Äußerungen von Tatverdächtigen.

Ethik im Journalismus, Abteilung Praxis: Bei ihren Recherchen zur jüngsten Mordserie in Ipswich spricht die BBC-Radioreporterin Trudi Barber mit einem 37-jährigen Supermarkt-Angestellten, der die Ermordeten kannte und dessen Haus die Polizei bereits durchsucht hat. Der Mann ist bereit zu einem Hintergrundgespräch, aber nicht zu einem Interview für das Radio. Dem Boulevardblatt Mirror gibt er ein Interview und wird kurz danach festgenommen — unter dem Verdacht des fünffachen Mordes.

Soll die BBC das aufgezeichnete 36-Minuten-Gespräch trotz der vereinbarten Vertraulichkeit senden oder nicht?

Der Sender hat sich dafür entschieden, aber die im Blog nachgelieferte Begründung ist nicht sehr überzeugend. Fix vermischt sich das öffentliche Interesse mit der Neugier der Öffentlichkeit und der Freude am exklusiven Stoff. Der Großteil der Kommentatoren ist jedenfalls von der BBC enttäuscht.

(An dieser Stelle für eine Minute die Augen schließen und ausmalen, der Mann stelle sich am Ende als unschuldig heraus. Er kann vielleicht seinen überall vollständig genannten Namen ändern, aber die Fotos aus seinem MySpace-Profil sind längst in allen Zeitungen.)

Mittlerweile sitzt ein zweiter Mann in Untersuchungshaft, und die Polizei hat darum gebeten, keine Namen zu nennen. Ohne großen Erfolg: Auch der zweite Verdächtige wird zumindest von BBC, Times und Telegraph mit vollem Namen genannt (anscheinend nicht vom Guardian). Neben dem Schutz der Persönlichkeitsrechte gibt es für die eindringliche Bitte der Polizei nach englischem Recht einen zweiten guten Grund: Wenn die Geschworenen durch Medienberichterstattung beeinflusst werden, kann der Prozess platzen. Dem Medium droht sogar eine Verurteilung wegen Missachtung des Gerichts.

Und in Deutschland? Keine vollen Namen, keine Fotos, fordert der Pressekodex von Printmedien. „Die Nennung des vollständigen Namens und/oder die Abbildung von Tatverdächtigen, die eines Kapitalverbrechens beschuldigt werden, ist ausnahmsweise dann gerechtfertigt, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liegt und Haftbefehl beantragt ist oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen wird.“ Bei Anzeichen einer möglichen Schuldunfähigkeit ist nicht einmal das zulässig.

Keine Kommentare

  • Hmm. Die Berliner Zeitung hatte gestern oder so ihre Seite3 damit gefüllt. Mit dickem Foto, voller Namensnennung, MySpace-Profil – und den Zweifeln. Ich hab mein Abo leider eh schon gekündigt. Wäre sonst ein guter Punkt gewesen.

  • Ich habe gestern zufällig die Mitternachtsnachrichten auf SKY gesehen, als verkündet wurde, dass der Festgenommene Nr.2 angeklagt wird. Da berichteten die beiden SKY-Leute auch von einer scharfen Ermahnung der Ermittlungsbehörden an die Medien, weil die Berichterstattung völlig aus den Fugen geraten sei.

    Nachdem SKY nun tagelang fast kein anderes Thema kannte und immer ganz vorne dabei war, als es um Namensnennung ging, waren die beiden Berichterstatter verblüfft: „Meinen die uns? Wir haben doch nur unseren journalistischen Auftrag ausgeführt?!“. Nicht der Hauch von Selbstkritik oder Infragestellung bzgl. der Namensnennung. Eher Bedauern, dass nun mit dem Akt der Anklage, anscheinend Einschränkungen in der Berichterstattung in Kraft treten.

  • Bei der BBC hat Adrian Van Klaveren die Entscheidung übrigens noch einmal bekräftigt: „We continue to believe we made the right judgment.“ Allerdings macht er auch deutlich: Bei der BBC ist sehr wohl angekommen, dass die Entscheidung (das Interview mit dem ersten Verdächtigen zu senden) auf kräftige Kritik stößt. Und dabei finde ich interessant, dass viele der Kommentatoren betonen, sie seien keine generellen BBC-Kritiker.

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