Nur ein Mittel

NYTimes.com-Chefin Schiller über Onlinevideo.

Vivian Schiller ist seit 2006 Geschäftsführerin von NYTimes.com, davor war sie beim Turner-Medienkonzern, unter anderem bei CNN Productions, wechselte dann zum Discovery Times Channel, bevor sie das New-York-Times-Onlineangebot übernahm. Kurz gesagt: viel Fernseherfahrung.

In einem kurzen Interview-Clip von BeetTV hat sie schon im Dezember 2007 erzählt, wie sehr sich Fernsehen und Onlinevideo unterscheiden. Jetzt hat sie sich bei NYTimes.com einigen Leserfragen gestellt. Unter anderem zu den Unterschieden zwischen Fernsehen und Online:

Probably because of my television background, I did believe at first that video should be front and center to our online future. But I’ve come to believe it is but one means of journalistic expression among many. I’m a fan of our videos, which are produced for the Web (not repurposed TV) and strike me as authentic and original, but they are just one means to tell a story.

Und über das Ende des Bezahldienstes für bestimmte Premiuminhalte (TimesSelect):

We came to believe that charging for content would deter audience growth in the long term. And that in turn would suppress the growth of our ad revenue, which we projected to increase at a far greater rate than our TimesSelect income. (…) And I’m happy to report that so far, so good. Our audience has increased more than 40 percent in one year.

1851-1922 + 1987-2007

New York Times gibt Bezahldienst auf.

Eine gute Nachricht, via Riesenmaschine: Die New York Times verzichtet ab sofort auf TimesSelect, ihren Bezahldienst für bestimmte Premiuminhalte wie aktuelle Leitartikel und das Meldungsarchiv. Fast alle aktuellen Artikel waren schon vorher ohne Bezahlung zugänglich. Damit ist nun hoffentlich auch Schluss mit dem albernen Vorgehen beim Verlinken von Artikeln, bei dem jeder eine persönliche, 30 Zentimeter lange Webadresse zur Verlinkung zugeteilt bekam. Das ist aber nur die praktische Seite.

Viel einschneidender ist die Erkenntnis, die dahinter steht. Schließlich ist die New York Times eine weltweit bekannte Zeitung — sollten die Leser nicht allein deswegen täglich vorbeischauen und sich dort die Nachrichten abholen und für Leitartikel löhnen? Die Antwort der Zeitung:

Readers increasingly find news through search, as well as through social networks, blogs and other online sources. In light of this shift, we believe offering unfettered access to New York Times reporting and analysis best serves the interest of our readers, our brand and the long-term vitality of our journalism.

Etwas weniger pathetisch ausgedrückt: Die New York Times glaubt nicht mehr an den Leser, der für seine Zeitung pauschal über die Online-Bezahlbarriere springt. Sie hat verstanden, dass Leser gute Inhalte auf vielen Wegen finden — wenn sie denn zu finden ist. Das Ende von TimesSelect ist also keine Überraschung, aber vielleicht für manchen Verleger eine Horizonterweiterung. Gut für die Leitartikler, die jetzt wieder vor Publikum leitartikeln. Gut für die Nutzer, die jetzt ein Zeitungsarchiv bekommen, das immerhin 91 Jahre abdeckt:

In addition to opening the entire site to all readers, The Times will also make available its archives from 1987 to the present without charge, as well as those from 1851 to 1922, which are in the public domain. There will be charges for some material from the period 1923 to 1986, and some will be free.

Teilen lernen

Permalinks bei der New York Times.

Bislang war es mühsam, Artikel aus der New York Times auf Blogs zu verlinken — direkt kopierte Artikel-Links wurden abgefangen und führten zur Aufforderung, sich doch bitte anzumelden. Mühselig musste der Blogger sich anderswo einen ellenlangen Link erstellen lassen, der weblog-safe ist. Aber die New York Times hat dazugelernt. Der Share-Link neben jedem Artikel bietet jetzt die Wahl, ob der Text bei digg, Facebook oder Newsvine landen soll – oder ob der Leser einfach nur einen Permalink haben möchte, um über den Artikel zu bloggen. Das geht noch einfacher, aber die Himmelsrichtung stimmt.

Lockmittel Blitzlicht

Free Access Week bei NYTimes.com.

I went to feed the ducks and birds on the Alster lake just off the Kennedybrücke. None of them came, but when I took a Polaroid, the flashbulb attracted them as if it were bread. I used to think that the future was California, but now I think the future is Germany.

Aus Douglas Couplands Lesereise-Notizen von 2001. Couplands Blog Time Capsules ist, wie die übrigen sonst kostenpflichtigen New-York-Times-Onlineangebote, bis zum 12. November frei zugänglich: Free Access Week dank eines Sponsors.

Ohne Scrollbalken

Die Beta-Version des New York Times Reader.

Artikelansicht im Times Reader

Die New York Times hat in Zusammenarbeit mit Microsoft eine eigene Software zum Lesen von Zeitungsartikeln entwickelt, den Times Reader, derzeit im Beta-Stadium. Die Darstellung passt sich nahezu perfekt an die gewünschte oder vom Bildschirm vorgegebene Breite an: fünf- oder einspaltig, große oder kleine Überschriften, mit oder ohne Fotos — das alles variiert das Programm. Die Navigation durch die Artikel mit den Cursor-Tasten ist sehr bequem, es gibt keinerlei Scrollbalken, die Seitenwechsel sind flott und die Darstellung exzellent. Fotos kommen gut zur Geltung. Ein Kontextmenü zum Drucken, Kopieren, Speichern und Annotieren ist ebenfalls vorhanden.

Optisch gelungen ist die Suche: Neben einer normalen Listenansicht und einer Ansicht, bei der sich Relevanz in Größe niederschlägt, gibt es einen Topic Explorer. Das Programm greift auf die Schlagworte des jeweiligen Artikels zurück und zeigt so Artikel zum selben Thema — aber anscheinend leider nur in der selben Ausgabe.

Schlagwort-Baum im Topic Explorer

Ausgereift ist das Programm allerdings noch lange nicht: Der Ausdruck sieht gruselig aus (wirre Zeichenabstände), und gespeichert wird in einem proprietären Format. Wer einen Artikel mit del.icio.us und Co speichern will, muss zunächst auf „Open in Browser“ klicken. Der Reader weiß auch nichts von weiteren Inhalten im Web, etwa einer vertonten Bildergalerie oder weiteren Artikeln aus einer Serie. Und die Beta-Version des Readers ist mir binnen kurzer Zeit drei Mal abgestürzt.

Wozu also eine Zeitung auf diese Weise lesen? Tatsächlich ist das Lesegefühl deutlich näher am Zeitungslesen als eine Webseite, nicht nur typografisch. Das Programm vermittelt den Eindruck einer abgeschlossenen Ausgabe, macht das Durchblättern leicht. Und von dem Unsinn, eine Seite wie gedruckt darzustellen und den Leser auf eine wilde Scroll-Tour zu schicken, ist es weit entfernt. Zugleich verliert der Leser aber all die Vorteile, die ein selbst konfigurierter Browser mit Plugins und eigenen Lesezeichen bietet.

Mac- und Linux-Versionen seien geplant, schreibt die Times. Bis dahin ist die Test-Installation auch für Windows-XP-Nutzer reichlich mühsam: Erst muss eine Gamma-Version von .NET Framework 3.0 auf den Rechner, dann der Reader. Eigentlich gedacht ist das Programm für Windows Vista. Und erst 2007 will die New York Times offiziell entscheiden, ob Times Reader etwas kosten oder sich durch die schon jetzt vorhandenen, relativ unaufdringlichen Anzeigen finanzieren soll.

Mehr zum Thema:
Screenshots: Online-Hilfe zum Reader und Read/Write Web
Editors Weblog: „(I)t is a first step.“
CNet Web 2.0 Blog: „I like the Time Reader application very much, but its existence puzzles me.“