Journalistenquarantäne

Die US-Kongresswahl 2006.

Prognose und Hochrechnungen für die US-Kongresswahlen stemmen mal wieder die Fernsehsender und die Nachrichtenagentur Associated Press gemeinsam. Diesmal sollen die Daten der Wahltagsbefragung aber nicht schon am Nachmittag im Internet landen: In einem fensterlosen Raum in New York sitzen je zwei Vertreter von ABC, CBS, CNN, Fox, NBC und von AP. Ohne Handy, Notebook und Blackberry, berichtet Howard Kurtz. Erst um 23.00 Uhr dürfen sie Kontakt zu ihren Büros aufnehmen.

Und wann steht das Ergebnis endlich fest? Eine Tendenz soll am frühen Mittwochmorgen, etwa gegen 3.00 Uhr erkennbar sein, schreibt tagesschau.de. Wird es im Repräsentantenhaus knapp, könnte es sogar noch bis Donnerstag dauern.

Nachtrag: OpinionJournal führt auf, wann wo die Wahllokale schließen (18.00 Uhr Ostküstenzeit = 0.00 Uhr MEZ). Und Wonkette hätte da noch eine kleine Bitte — Send Us Leaked Exit Poll Reports!

Und noch was: Dass CNN zahlreiche Top-Blogger in einem Kaffee in Washington versammelt, um das dann in CNN Pipeline zu übertragen, ist reichlich bizarr. Wonkette: „CNN bets that you’ll pay them money to watch footage of a blogger blogging about blogging about being on CNN’s live internet video thingy.“

Wallraffen

Ein Sprachdenkmal im Schwedischen.

Ikone Günter Wallraff Ein Artikel in Svenska Dagbladet enthüllt, was jeder weiß: Es gibt — auch in Stockholm — böse Taxifahrer, die unkundige Touristen bei Kurzstrecken auf kleine Stadtrundfahrten mitnehmen. Überrascht war ich von der Wortwahl. Die Journalistin „har wallraffat som taxiåkandet turist“, hat also als Taxi fahrende Touristin gewallrafft.

Dennis Kittler hat darüber bereits bei LEO berichtet, einer Chemnitzer studentischen Onlinezeitschrift zu Sprache und Kommunikation, nicht zu verwechseln mit dem fabelhaften Wörterbuch gleichen Namens. Seit etwa 1975 werde das Wort im Schwedischen verwendet und damit Günter Wallraff ein sprachliches Denkmal gesetzt, schreibt Kittler.

Ziemlich schmutzig

Die Berichterstattung über die Londoner Razzia.

„In London sucht die Polizei fieberhaft nach einer ’schmutzigen chemischen Bombe'“, heißt es derzeit im Aufmacher von Spiegel Online. „Polizei sucht schmutzige Bombe“, lautet die Aufmacher-Schlagzeile von Focus Online. Diese dramatische Formulierung haben beide wiederum offenbar von Reuters. Und ab da wird die Suche nach der Quelle zunehmend zum Stochern im Nebel. Im Reuters-Original heißt es nämlich:

Some newspapers, citing unnamed security sources, said police believed suspected militants had made a „dirty“ chemical device — a conventional bomb surrounded by toxic material that could be set off by a bomber wearing a suicide jacket.

Im Reuters-Bericht folgt im Anschluss an diesen Satz ein Zitat aus der Boulevardzeitung Sun, in deren Artikel von einer schmutzigen Bombe aber keine Rede ist.

Auch nicht im Guardian, („intelligence suggested that a viable chemical or biological weapon could be inside“), in der Times („a bomb laced with cyanide“), im Telegraph („a suspected chemical bomb“, „a device using a dangerous chemical other than ricin“). In aktuelleren Artikeln ist — unter Berufung auf Sicherheitskreise — die Rede von einer „improvised device rather than a sophisticated weapon“ (Telegraph) oder „a homemade device“ statt einer „sophisticated bomb“ (BBC).

Der Begriff „schmutzige Bombe“ wurde bislang im Deutschen wie im Englischen für radiologische Waffen verwendet, nicht für chemische Kampfstoffe. Wie kommt das Wort also in den Aufmacher von Spiegel und Focus Online? Weil beide vermelden, dass Reuters berichte, dass einige Zeitungen (welche nur?) schrieben, dass ungenannte Quellen aus den Sicherheitsbehörden sagten, dass die Polizei glaube, es könnte eine „schmutzige“ chemische Vorrichtung hergestellt worden sein. (Über die tatsächliche Lage im Ostlondoner Forest Gate weiß ich selbstverständlich nichts, was nicht in den Medien berichtet wird. Aber das hier sieht nach Stille-Post-Spielen aus.)

Nachtrag: Mittlerweile verwendet auch Reuters die Formulierung „schmutzige Bombe“ nicht mehr.

Die Szene

Notizen von Besser Online 2006.

Einschalt-Symbol aus dem Besser-Online-Logo Eine kleine Rand-Bemerkung vom DJV-Onlinejournalisten-Treffen BesserOnline. Der Chefredakteur der Netzeitung, Michael Maier, erwähnte in der Eröffnungsdiskussion das Projekt Readers Edition. Gestartet werde mit 20 Moderatoren, die Netzeitung arbeite dabei „stark mit der Bloggerszene zusammen“. Da sind sie wieder: die Blogger und ihre Szene. Vertreten wurden die auf dem Podium übrigens von Don Alphonso, dessen Freude über den Vergleich von Weblogs und Stammtischen nun einmal nicht jeder Blogger teilt. (Mehr zu Readers Edition in zwei Postings von Robert Basic, Vorab-Screenshots und bald auch ein Interview bei ojour.de.)

Eine positive Überraschung waren die vielen Handzeichen, als Matthias Spielkamp sich während seines exzellenten Vortrags immer mal wieder erkundigte, wer denn diese oder jene Web-2.0-Technik kenne oder persönlich nutze. Mein Eindruck ist, dass sich mehr und mehr Kollegen weder von den Buzzwords noch von der pauschalen Buzzword-Kritik schrecken lassen. Und Jan-Michael Ihl hat in seinem Forum auch noch einmal gezeigt, wie schnell im Bedarfsfall ein Blog auf dem eigenen Server eingerichtet ist.

(Eine Haftnotiz für die Macher aller künftiger Kongresse über Digitales: Bitte mehr Steckdosen. Viel mehr Steckdosen. Things go better with Strom. Aber davon abgesehen Applaus für die Organisatoren, die sogar auf die Wetterlage mit der Ausgabe eines Regen-Programms reagierten.)

Vom Mittagessen blieben zwei Links: Zum einen die Initiative Nachrichtenaufklärung, die derzeit wieder auf der Suche nach relevanten Themen ist, die von den traditionellen Medien nicht aufgegriffen werden. Entspricht der Vorschlag den Kriterien der Initiative, landet er über den Umweg der Rangliste vernachlässigter Themen doch in den Redaktionen. (Die Alternative zum Einreichen von Vorschlägen ist natürlich, selbst zu recherchieren und darüber zu bloggen.)

Zum anderen die vierten Wizards of OS, auf die mir Matthias und Meike noch einmal große Lust gemacht haben. Die inspirierende Berliner Konferenzserie über freies Wissen werde ich auch in diesem Jahr wieder verpassen, aber empfehle sie dringend allen netzpolitisch interessierten Menschen: 14. bis 16. September, Columbia-Halle, Berlin.

Nachtrag: Mehr zu BesserOnline bei Don Alphonso, Temmo Bosse, Alexander Hüsing, Christiane Link, Carsten Lißmann, MamasAtWorkLog und Andreas Streim. Und irgendwie auch bei Torsten Kleinz.

Was Blogger können

Über die Weblog-Studie von Matthias Armborst.

Abbildung auf dem Cover des Armborst-Buches Was Friseure können, können nur Friseure: Dieses schöne Friseursalon-Dogma scheinen manche beim Netzwerk Recherche auch auf Journalisten anzuwenden. Jedenfalls klingt so die bedrohliche Pressemitteilung zu einer Neuerscheinung über Weblogs, ihr Verhältnis zum Journalismus und zur Medienethik. Über den Pressetext und den Buchtitel ist schon ziemlich heftig gestritten worden — aber das Buch selbst bereichert die Diskussion immens! (Ja, ich habe heute das Rezensionsexemplar gelesen.)

Der Autor Matthias Armborst lässt sich nicht auf cluetrainesken Überschwang ein, zeigt aber, wie Journalist-Sein und Blogger-Sein mehr miteinander zu tun haben, als viele Journalisten — und sogar viele Blogger — meinen. Zum einen, indem er die Entwicklung und Formen von Weblogs auf fast 50 Seiten nachzeichnet, mit vielen gut ausgewählten Beispielen. Zum anderen, indem er eine Befragung von 148 Bloggern und Blog-Nutzern aus dem deutschsprachigen Raum auswertet.

Wer die deutschsprachigen Blogger für einen Haufen gewissenloser Allespublizierer à la Matt Drudge hält, wird von der Befragung sehr enttäuscht sein. Ohne das J-Wort zu verwende, findet Armborst eine ganze Reihe von journalistischen Motiven und Handlungsweisen unter den Bloggern. Statt der traditionellen Nachrichtenwert-Kriterien ist aber persönliches Interesse die treibende Kraft. Und Bloggerethik? Ungeschriebene Regeln gelten natürlich auch in der Blogosphäre: Drei Viertel der Befragten rechnen beispielsweise damit, dass wiederholte Falschmeldungen eines Bloggers zu Protesten seiner Leser und Glaubwürdigkeitsverlusten führen würden. Ungeprüfte und ungenaue Informationen zu veröffentlichen und den Lesern Präzisierung und Korrektur zu überlassen, lehnen mehr als drei Viertel der befragten Blogger ab.

„Weblogs können den Journalismus anspornen, ergänzen und bereichern“, schreibt Armborst am Ende. „Ersetzen können sie ihn nicht.“ Touché. Wer sich als Journalist nicht angespornt oder bereichert fühlt, sondern nur von der eigenen Unersetzlichkeit schwärmt, sollte das Buch erst recht lesen. Von Untergrundblogs aus dem Irak über Watchblogs und Journalisten-Weblogs bis zu Blogosphären-Tools zeigt die Studie das immense journalistische Potenzial des Mediums, ohne Weblogs dabei auf Quasi-Journalismus zu reduzieren.

Eine Warnung: Es ist und bleibt eine wissenschaftliche Studie. Wer allergisch auf Fußnoten reagiert, die mit vgl. ebd. beginnen, ist definitiv besser bedient mit einem der Bücher über Blog-Technik oder dem wirklich schönen Blogs!-Band. Aber neben Jan Schmidt mit Weblogs: Eine kommunikationssoziologische Studie ist Armborst einer der ersten, die sich mit Offenheit, Detailkenntnis und eben wissenschaftlichem Werkzeug der deutschsprachigen Blogosphäre nähern.

Übrigens gibt es schon auf Seite 9 eine kleine Exklusivinformation: In der nächsten Neubearbeitung des dicken Duden-Universalwörterbuchs und des Fremdwörterbuchs sollen Weblog, Blog, Blogger und bloggen ihren Platz finden. Darauf freue ich mich schon jetzt.

Matthias Armborst, Kopfjäger im Internet oder publizistische Avantgarde? Was Journalisten über Weblogs und ihre Macher wissen sollten, Münster: Lit 2006. (184 Seiten, 14,90 Euro.)

Nachtrag: Eine weitere Rezension von Verena Schmunk beim PR Blogger.