Rekensleutel

Undercover bei den Fernseh-Anrufquizzen.

Mich hat gerade ein fast 40 Minuten langes Video in einer Sprache, die ich kaum beherrsche, begeistert:


Die Basta-Folge zu Anrufquizzen bei YouTube

Die Macher von Basta, einer satirisch-investigativen Sendung im belgischen öffentlich-rechtlichen TV-Programm Eén, setzen sich mit Anrufquizzen auseinander.

Nicht nur, indem sie die merkwürdigen Tiere, deren Namen die Anrufer raten müssen, im Zoo suchen; nicht nur, indem sie die bizarren Spielregeln als Jahrmarktgaukler nachspielen. Viel besser: Sie knacken den Rechenschlüssel für die dubiosen Zählaufgaben (PDF-Erklärung) — und schmuggeln einen der ihren mehrere Monate lang als Moderator ein.

Einen Tag nach der Basta-Ausstrahlung haben die Sender VTM und 2BE angekündigt, die Anrufquizze einzustellen.

Nachtrag: Eine Version mit deutschen Untertiteln und den Link zu einer synchronisierten Fassung gibt es bei Fernsehkritik-TV.

Ein paar Verständnishilfen:
bellers = Anrufer
belspelletjes = Telefonspiele
mol = Maulwurf
kijker = Zuschauer
kans = Chance
drie uur lang = drei Stunden lang
kansspel = Glücksspiel
staatssecretaris voor de Coördinatie van de fraudebestrijding = Staatssekretär für die Koordination der Betrugsbekämpfung
K.B. (Koninklijk Besluit) = Regierungserlass, in diesem Fall zur Anrufquiz-Regulierung
telsleutel = Zählschlüssel
rekensleutel = Rechenschlüssel

Verrat und Kalkül

Von Wikileaks zu West Wing.

Felix Schwenzel schreibt:

jetzt wo ich wie mathias richelthe west wing“ zum zweiten mal gucke, habe ich das gefühl, dass aaron sorkin mehr über die regierung der vereinigten staaten verraten hat, als wikileaks.

(Und er schreibt dann weiter darüber, wie Filter-Infrastruktur und Wikileaks und „Denkt denn niemand an die Kinder?“ zusammenhängen. Ich muss dabei sofort an die Diskussionen rund um ICANN und die Kontrolle über das Domainnamensystem vor etwa zehn Jahren denken. Es gab einige übertrieben paranoide Vorstellungen von der Allmacht der Rootserver und es gab einige übertrieben naive Vorstellungen davon, dass es an dieser Stelle nur um Technik geht oder gehen sollte.)

In „West Wing“ ist die Frage, wer wann etwas weiß und was wann wie an die Öffentlichkeit kommt, ein zentrales Thema: die Gratwanderung zwischen Verschweigen, Lügen, Spin und Manipulation. Leaks sind dabei nicht nur Regierungspannen oder Journalistenerfolge, sondern auch Machttechnik: Sie werden eingesetzt, um Gegnern zu schaden, um die Veröffentlichung anderer Artikel zu verhindern oder um kurz vor einer dramatischen Erklärung den Boden aufzulockern, den Schock zu dämpfen. Umgekehrt werden Krisen bei „West Wing“ mitunter auf eine Weise gelöst, die Geheimhaltung erfordert — Kompromisse, die das Gesicht wahren; Lösungen, auf die die Beteiligten möglicherweise zehn Jahre später stolz sind, die aber nicht klappen würden, wäre alles völlig transparent. Wer Politik nur in sattem Schwarz oder Weiß mag, wird „West Wing“ nicht mögen.

(Wer immer noch nicht neugierig ist, möge Anke Gröners Lobeshymne auf „West Wing“ lesen. Ich bin im Moment bei der dritten Staffel, zum zweiten oder dritten Mal. Diesmal ist mir unter anderem in Folge 1-06 aufgefallen, dass ein geplantes Vulkanobservatorium verspottet wird, das Flugzeuge vor Aschewolken warnen soll. Die Folge lief zehneinhalb Jahre, bevor jemand außerhalb Islands Eyjafjallajökull aussprechen konnte.)

Kleiner Test

Britische Fernsehprominenz.

Welche Person ist am längsten auf britischen Fernsehbildschirmen zu sehen gewesen?

(Auflösung hier oder hier.)

Die hohe Live-Kunst

BBC-Bilder vom Machtwechsel.

Viele der BBC-Livebilder vom dann doch plötzlichen Regierungswechsel in der 10 Downing Street heute Abend hatten Kinoqualität — und das ohne monatelange Vorbereitung wie bei einer Amtseinführung in Washington. Ein Machtwechsel in 90 Minuten, zusammengefasst in knapp drei, zu überdramatischer Musik.

(Ja, ich bin noch da.)

BBC-Aufnahmen vom Regierungswechsel

Parlamentube

BBC Democracy Live, Bundestag.de und C-SPAN.

In zweieinhalb Wochen feiern die Briten ein denkwürdiges Jubiläum: Am 21. November 1989 ließ das britische Unterhaus die Fernsehkameras ins Parlament. Gleich in der ersten übertragenen Rede erklärte der Tory-Abgeordnete Ian Gow den neuen Zuschauern, was er davon hielt: „I have always voted against the televising of the proceedings of this House, and I expect that I always will.“ (Video) Die britischen Parlamentarier hatten im Vorfeld jahrelang über das Fernsehen und die Folgen gestritten. Ausschüsse legten anfangs exakt fest, was die Fernsehregie zu zeigen hatte: denjenigen, der offiziell das Wort hat — auch und gerade bei Tumulten im Westminster-Palast. Inzwischen hat sich Aufregung längst gelegt, und die Kameras dürfen auch die sogenannten „reaction shots“ zeigen.

Fast 20 Jahre später hat die BBC ein Onlineprojekt freigeschaltet, das sie schon vor einer Weile angekündigt hat: Democracy Live, eine durchsuchbare Parlaments-Mediathek. Das Angebot nimmt britisches Ober- und Unterhaus, die Parlamente von Schottland, Wales und Nordirland und das Europäische Parlament in den Blick, bietet Videos von Reden und Debatten und erschließt die Themen.

Screenshot Democracy Live

Democracy-Live-Nutzer können dabei einzelne Abgeordnete gleichsam abonnieren. Über „Follow this representative“ bekommen Nutzer mit, wann immer es um ihren Parlamentarier geht — nicht nur dessen eigene Reden, sondern auch bloße Erwähnungen. Der Clou: Die Videos werden per Spracherkennung in Text gewandelt und sind damit durchsuchbar. Viele der Videos können auch direkt woanders eingebettet werden, leider aber noch nicht die Videos aus dem Ober- und Unterhaus.

Erwähnung Gordon Browns auf Democracy Live

In Deutschland, wo dem Parlamentspräsidenten schon eine Phoenix-Übertragung nicht genügt (Zapp-Video), hat sich mitterweile auch schon einiges getan: Bundestags-Plenardebatten sind in einem Videoarchiv auf bundestag.de zu finden — und Nutzer können die Videostreams ebenfalls bei sich einbetten. Dass das alles noch nicht so einfach funktioniert, wie man es sich wünscht, beschreibt Matthias Mehldau ausführlich auf netzpolitik.org.

Video-Embedding auf bundestag.de

Einzelne Landtage haben ebenfalls Video-Archive, die aber nicht sehr zugänglich sind, beispielsweise in Bayern erst nach Sitzungstag, dann nach Tagesordnungspunkt sortiert. Nur ein echter Politikfreak wird einfach auf Verdacht ein Video starten, dass nur mit „Zwischenbemerkung Harald Güller (SPD)“ betitelt ist.

Auch der von Amerikas Kabelnetzbetreibern finanzierte Sender C-SPAN bietet im Netz interessante Video-Suchfunktionen: In der C-SPAN Video Library gibt es beispielsweise einen Personeneintrag zu Angela Merkel, der zu allen Videos mit ihr führt. Damit lässt sich aber auch gleich auflisten, wer mit wem gemeinsam in welchen Videos auftaucht: Bush und Berlusconi, Steinmeier und Solana. Das erinnert ein wenig an die automatische Erfassung der im Fernsehen auftretenden Politiker, die das MIT Medialab vor einigen Jahren als Gegen-Überwachungsprojekt gestartet hatte.

Merkel-Auftritte bei C-SPAN mit appears-with-Funktion

Auch bei C-SPAN sind die Videos durchsuchbar, dafür nutzt der Sender die TV-Untertitel. Eine Videoseite — beispielsweise zur Merkel-Rede vor dem US-Kongress — enthält eine inhaltliche Zusammenfassung, Transkript, Schlagwörter, Personeneinträge und zahlreiche Tools zur Weiterverbreitung. Es werden sogar die Seiten, in denen das Video eingebettet ist, zurückverlinkt.

Ein bisschen Spielerei ist dabei, ein bisschen Eitelkeit der Redner sicher auch. Aber wer je in einer Bibliothek die schweren Bände der Bundestags-Plenarprotokolle gewälzt und mühsam die Fundstellen abgegrast hat, will mit Sicherheit nie wieder zurück zur Welt vor der Volltextsuche.