Das E-Mail-Phantom

Auf der Spur des Internetphänomens Jeffrey A. Williams

131.000 Mitglieder für einen internationalen Verband von Netzwerk-Ingenieuren sind eine stolze Zahl. Dessen Sprecher, Jeffrey A. Williams, war an der Entwicklung des Internet-Vorgängers Arpanet beteiligt und arbeitet mit George Bushs Spezialisten für Cyber-Sicherheit zusammen. Außerdem war er Kampfpilot, Richter, Amateurboxer, Buchautor, Vietnamveteran, hat Jura und Informatik studiert und für die US-Regierung sowie die Welthandelsorganisation gearbeitet. Und alle wissen, dass das nicht stimmt.

Bei meiner Beschäftigung mit der Internetverwaltung ICANN war der angeblich INEGroup-Chef Jeff Williams eine der ersten Personen, die ich per Mailingliste kennen gelernt habe. Mittlerweile zählt mein E-Mail-Programm 2255 Mails von Jeff Williams seit Anfang 2002. Einige wurden bestimmt doppelt gezählt, der weit überwiegende Teil stammt aus Mailinglisten, doch die Größenordnung stimmt. Jeff ist eine Legende, die jeder kennt, der sich auf ICANN-bezogene Mailinglisten verirrt hat.

Regards,

Jeffrey A. Williams
Spokesman for INEGroup – (Over 127k members/stakeholders strong!)
CEO/DIR. Internet Network Eng/SR. Java/CORBA Development Eng.
Information Network Eng. Group. INEG. INC.
E-Mail jwkckid1@ix.netcom.com
Contact Number: 214-244-4827 or 972-244-3801
Address: 5 East Kirkwood Blvd. Grapevine Texas 75208

Die Signatur am Ende seiner Mails mit der stets wachsenden Mitgliederzahl beeindruckt nur auf den ersten Blick: Es gibt keinen Verband namens INEGroup. Jeff hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine Webseite für sie zu erstellen. Obwohl der Schwindel leicht auffliegt, verteidigt Jeff seine imaginäre Organisation seit mittlerweile fünf Jahren. Die einen reagieren darauf entnervt: Wer dermaßen offensichtlich lügt, sollte aus Mailinglisten ausgeschlossen werden. Andere sehen in Jeff nur eine Stimme unter vielen, deren Identität man nicht überprüfen kann.

ROFLMAO! God you funny Michael. I don’t give a dam if you read
my sig file of not! But it is exactly accurate anyway!
Both of the Phone Numbers work perfictly fine. Try them yourself…
Our membership is officially 124k at this point in time. We will be
doing a review right after the first of next month. That’s August, in
case you have lost track of time and space… >;)
So in closing, and as always, if you have a beef about the info in my
sig file, and really believe it is fake. Sue me! I await your or
anyone else’s service…
[30.7.2002]

Mit der Zeit ist bei vielen die Faszination gewachsen: Wer schreibt bloß die Unmengen oftmals wirrer Beiträge unter dem Namen Jeff Williams, voller gewundener Formulierungen und seltsamer Tippfehler? Matthias Fichtner hat Jeff einen Artikel mit dem schönen Titel Der Identitäter gewidmet, eine Jeff-Williams-FAQ wuchs über die Jahre. Es wurde sogar ein Privatdetektiv beauftragt, und Listenmitglieder haben bei den Universitäten angerufen, an denen Jeff angeblich studiert hat.

Als Listenmoderator der DNSO-General-Assembly-Mailingliste hatte ich oft mit Jeff zu tun: Mit dem Limit von fünf Beiträgen pro Tag tat er sich ziemlich schwer. Bei einer DNSO-Telefonkonferenz durfte ich Jeff sogar live erleben, aber bei ICANN-Treffen hat man ihn nie gesehen. Ross Rader von Tucows unternahm bei einer Reise durch Texas einen Abstecher ins sagenumwobene Grapevine und kam mit Fotos zurück. Sie zeigen allerdings weder Jeff noch das Hauptquartier von INEGroup. An der angegebenen Adresse ist schlicht gar nichts. Dennoch oder gerade deswegen wurde Jeff zur Kultfigur: ICANNs frühere Vorsitzende Esther Dyson war auf einer Tagung in Amsterdam mit Jeffs Namensschild unterwegs.

Nun droht das Jeff-Williams-Universum plötzlich einzustürzen: Ein Foto soll den legendären Jeff zeigen, wie er dem ebenfalls an ICANN interessierten Texaner Jeff Holt die Hand schüttelt. Holt hatte angeblich mit Williams telefoniert; Listenteilnehmer hatten ihn aufgefordert, Williams endlich einmal vor die Kamera zu zerren und dem Spuk ein Ende zu machen. Soweit man es anhand von Website, Geburtstagsfotos und Familienbildern beurteilen kann, existiert Holt. Ist Jeff Holt aus Grapeland, Texas der Erfinder von Jeff Williams aus Grapevine, Texas?

Das unscharfe Beweisfoto zeigt Holt zusammen mit einem sehr jungen Mann, der sein Sohn sein könnte und offensichtlich einen ähnlichen Kleidungsgeschmack hat. Holt ist bekennender Fan von Online-Rollenspielen und beklagt auf seiner Website, dass man ihn aufgrund seiner Beiträge beim Virtual-Reality-Spiel Cyber Town ausgeschlossen habe. Mit letzter Sicherheit wird man es wohl nie wissen. Für einen Kinofilm wie „Catch Me If You Can“ reicht es nicht ganz, aber irgendwo in Texas — oder irgendwo ganz anders — sitzt jemand, der das längste und zäheste Online-Rollenspiel der Welt spielt.