Post-Prismacy

Fünf Gedanken zu den NSA-Enthüllungen.

Journalism by conflict
Es war streckenweise herzerweichend anzusehen, wie manche verwirrt vor den Widersprüchen des PRISM-Skandals standen und den Kopf schüttelten: Aber die Firmen bestreiten das doch! Moment, aber das steht doch auf den angeblichen NSA-Folien anders! Glenn Greenwald — einer der Journalisten, die für die NSA-Enthüllungen gesorgt haben, — hat das auf ABC schön erklärt: „[T]here was a conflict, which is what we reported, that the NSA claims that they have direct access, the companies deny it. […] So we reported these discrepancies precisely because we want them, those parties, to resolve it in public, in sunlight, and let people decide whether or not that’s the kind of country they want to live in when the government can get this massive amount of information.“ Journalismus bedeutet also in diesem Fall nicht, die wahre Wahrheit zu verkünden, sondern dem Publikum zu erklären, dass sich hier zwei Erklärungen im Konflikt befinden.

Die überraschende Nicht-Überraschung
Ja, wer sich schon vorher wirklich dafür interessiert hat, konnte die letzten Tage herumlaufen und allen erzählen, das sei doch alles nicht überraschend. Ach wirklich? Dass sich Politiker bis zum US-Präsidenten zum Thema NSA äußern, äußern müssen; dass sich nicht nur die Befürworter von Privatsphäre, sondern auch die Sicherheitsmaximalisten rechtfertigen müssen; dass es Tag für Tag Enthüllungen gibt, die weltweit in den Medien erscheinen — das ist alles nicht neu? Dass Informationen über geheime Programme sogar ansatzweise freigegeben werden müssen, um sie zu verteidigen — alles keine Überraschung? Na dann.

Bleibt alles anders
Der Whistleblower Edward Snowden hat seine Sorge so beschrieben: „The greatest fear that I have regarding the outcome for America of these disclosures is that nothing will change. People will see in the media all these disclosures, they know the lengths that the government is going to grant themselves powers unilaterally to create greater control over American society and global society — but they won’t be willing to take the risks necessary to stand up and fight to change things, to force their representatives to actually take a stand in their interests.“ Keine völlig unwahrscheinliche Annahme: Umso bemerkenswerter, dass Snowden sich trotzdem entschieden hat, das alles ans Licht zu bringen.

Let’s debate!
Wo jetzt zumindest ansatzweise mehr Informationen über die Telefon- und Internetüberwachung auf dem Tisch liegen, sollten wir Edward Snowden zumindest einen Wunsch erfüllen: über das Thema reden und streiten. David Simon (der Erfinder von „The Wire“) hat das in seinem Blog getan und die Enthüllungen für Quatsch erklärt: Das sei doch fast alles noch so wie bei den öffentlichen Telefonen in Baltimore, dem Ausgangspunkt der Telefonüberwachung in „The Wire“, nur eben im Zeitalter von Terrorismus und Big Data eine Nummer größer. Nach einer langen Debatte hat Simon ein Update geschrieben, in dem er davon ein klein bisschen abrückt.

Shut up Go on and take my money!
Natürlich verdanken wir die Enthüllungen über PRISM in erster Linie Snowden, denn es ist seine Freiheit und sein Leben, die auf dem Spiel stehen. Dass die Aufdeckung für ein maximales Echo gesorgt hat, das haben Guardian und Washington Post sehr gut hinbekommen. Insbesondere die Dramaturgie des Guardian war grandios: Erst das PRISM-Programm aufdecken, dann dank Boundless Informant belegen, dass die NSA die eigenen Aufseher nicht besonders wahrheitsgetreu informiert hat, schließlich den Whistleblower und seine Motive vorstellen. Ich würde mich freuen, den Guardian-Journalismus mitzufinanzieren, aber das ist gar nicht so leicht. Ein Abonnement des Guardian Weekly ist bislang die beste Idee, wie ich für Journalismus bezahlen kann, für den ich gern bezahlen würde.

Zu viel

Ein Blick auf die Warlogs aus dem Irak.

Wenn ich die Irak-Warlogs-Daten nehme, die der Guardian als Google Fusion Table aufbereitet hat, sind die Daten bereits gefiltert — die Tabelle enthält nur die Warlogs, in denen ein Tod vermeldet wird.

Und selbst wenn ich dies weiter beschränke auf Explosionen von Sprengfallen („IED explosions“) und dann noch einmal eingrenze auf diejenigen mit mindestens 20 Todesopfern und schließlich nur die Umgebung auf Bagdad zeige, sieht die Karte am Ende so aus:

So sieht das Ganze als Zeitleiste aus (IED-Explosionen mit mindestens 20 Todesopfern):

Anders gesagt: Es ist zu viel. Auf der Guardian-Karte befinden sich zehntausende Punkte, die für einen oder mehrere Toten stehen. Das ist höchstens noch beeindruckend, aber jenseits jeder Erfassbarkeit.

Auch bei der Anonymisierung, um die so viel gestritten wurde, zeigt sich, dass es schlicht zu viel ist. Wikileaks hat selbst den radikalsten Ansatz gewählt und so viele Wörter durch Unterstriche ersetzt, dass aus mancher Meldung ein rätselhafter Lückentext geworden ist („THREAT TO ___ BY /___ SE OF HIT“).

Guardian und Spiegel bieten große Teile der Datenbank selbst im Netz an und verraten mitunter mehr als Wikileaks.

Ein Beispiel aus dem Wikileaks Diary Dig: „At 020930COCT06, a ___ IA who worked for Military Intelligence was murdered. The E ___ is ___ and was born is ___. He was shot by three 9mm rounds to the ___ and neck“.

Die Spiegel-Flashgrafik und die Guardian-Karte zeigen dagegen den vollen Namen (blaue Balken von mir), weil er im Titelfeld steht – das scheint aber eher eine Ausnahme zu sein. Wikileaks zeigt nicht nur das Titelfeld, sondern den gesamten Eintrag, verstümmelt ihn dabei aber so sehr, dass sich der Inhalt manchmal kaum rekonstruieren lässt.

Spiegel-Auszug aus US-Bericht zum Irakkrieg
(Der Spiegel)

Guardian-Karte zum Irakkrieg
(The Guardian)

Ein weiteres Beispiel, diesmal mit Links: Bei Wikileaks lautet die Meldung kryptisch „ASSASSINATION OF __“. Baut man die Ziffern- und Zahlenkombination (ReportKey) und das Datum korrekt in die URL der Spiegel-Flashgrafik ein (#id=D79BD9C5-2BA3-4B5F-A2BA-10E779EACED1&date=9.3.2005), erfährt man, dass eine Übersetzerin umgebracht wurde. Womöglich ist es Nawal Mohammed, die in einem AP-Bericht von 2005 bereits namentlich erwähnt wurde.

Das führt auch schon zum letzten Punkt, den Sozialpsychologen Scope-Severity Paradox nennen. Das Experiment: Ein fiktiver Finanzbetrüger hat drei Leute um ihr Geld gebracht — wie lange soll er dafür ins Gefängnis? Die Befragten schicken ihn im Mittel für 6,4 Jahre hinter Gitter. Wenn er zehn Mal mehr Leute um ihr Geld gebracht hat, sind es dagegen nur 5,5 Jahre. Das ist leider nicht nur in der Welt der Psychologie-Experimente so, sondern auch bei realen Schadenersatzprozessen. Wired bringt es auf den Punkt: „The More Victims, the Less Severe the Judgment“.

Wenn Menschen schon mit 30 Betrugsopfern überfordert sind, welche Bedeutung hat dann die Zahl 109.032 (Todesopfer im Irak)? Welche Bedeutung hat es, dass die Zahl der zivilen Opfer um 15.000 höher liegt als vorher gedacht? Vielleicht sind es ja eher gut gewählte Auszüge (wie A day in the life of the war beim Guardian), die bei einem Leser einen bleibenderen Eindruck hinterlassen.

Nachtrag: Weitere schöne Beispiele dafür, wie radikal Wikileaks die Warlogs säubert — zu den nicht angezeigten Wörtern gehören auch MICROSOFT und… IRAQ.

Mehr zum Thema:

Leser als Mitglied

Guardian und Observer starten Extra.

Sechs Tage pro Woche den Guardian, sonntags den Observer, so ein Abonnement kostet in Großbritannien etwa 300 Pfund. Jetzt bieten die beiden Blätter etwas an, was sich für eine Zeitung ungewöhnlich anhört: Mitgliedschaft. Extra, das Mitgliedsprogramm von Guardian und Observer, hat wenig mit taz-Genossenschaft gemein. Auch wenn sich die taz mit Prämien bedankt (einem fair gehandelten Mango-Paket zum Beispiel), geht es mehr ums GenossIn-Sein als ums Genießen. Extra ist dagegen eine Mischung aus Coupon-Heft (Preisnachlass auf Luxusbettwäsche) und Backstage-Pass (exklusive Lesungen und Vorträge). Abonnenten bekommen ihre Mitgliedskarte automatisch, alle anderen zahlen 25 Pfund im Jahr für dieses Gefühl der Zeitung als Gemeinschaft.

Der KulturSpiegel als exklusive Beilage für Spiegel-Abonnenten (Nachtrag: seit 2008 nicht mehr exklusiv), das Zeit-Online-Premiumabo, Touren durch die SZ-Druckerei — da müsste hierzulande doch eigentlich mehr möglich sein? (Wenn es Menschen gibt, die 1.750 Dollar für ein Bon-Jovi-Konzert zahlen?)

Metamaulkorb

Der Guardian-Erfolg gegen eine „super-injunction“.

Als eine Anwaltskanzlei eine Verfügung gegen den Guardian erwirkte, dass die Zeitung nicht über eine bestimmte Parlamentsanfrage berichten dürfe, hatten die Anwälte an die erste Metaebene gedacht: Die Verfügung beinhaltete auch das Verbot, zu berichten, über welche Anfrage der Guardian nichts berichten darf. Die naheliegende Antwort des Guardian: Das Blatt berichtete darüber, dass es nicht darüber berichten dürfe, worüber es nicht berichten dürfe.

Im Unterhaus sorgte das selbstverständlich für Empörung über die Anwaltskanzlei, im Internet sorgte es dafür, dass die Anfrage auf prominenten Blogs landete. Noch bevor der Guardian die Verfügung anfechten konnte, zog die Anwaltskanzlei sie zurück.

Und worum ging es nun in der Anfrage? Der Labour-Abgeordnete Paul Farrelly wollte dies von Justizminister Jack Straw wissen: Welche Auswirkungen hat (unter anderem) eine von der Firma Trafigura erwirkte Verfügung, die die Berichterstattung über eine Untersuchung eines Giftmüllskandals verbietet, auf Hinweisgeber und auf die Pressefreiheit? Das ist natürlich ein schöner Trick, damit die Medien berichten können, dass jemand im Parlament Fragen zum Berichterstattungsverbot stellt. Tief Luft holen: Trafigura wollte also dem Guardian verbieten, darüber zu berichten, dass er nicht darüber berichten darf, dass er nicht über einen Bericht berichten darf.

Guardian-Herausgeber Alan Rusbridger schreibt dazu: „A combination of old media – the Guardian – and new – Twitter – turned attempted obscurity into mass notoriety.“

Über die Untersuchung darf die Zeitung übrigens immer noch nicht berichten. Bei Wikileaks ist ein Dokument zu finden, bei dem es sich um diese Studie handeln soll.

Nachtrag: Charlie Brooker hat es, wie so oft, brilliant zusammengefasst. If a tree falls in the forest and there’s no one to hear it, can Carter-Ruck ban all mention of the sound?

Noch ein Nachtrag: Endlich darf der Guardian berichten — und zeigt nun auch einmal, wie eine solche super-injunction aussieht.

Teure Kugeln

Guardian-Infografik zu britischen Staatsausgaben.

Guardian-Infografik zum Haushalt

Der Guardian hat sich ein wichtiges, aber sehr trockenes Thema genommen und es formidabel in eine Infografik umgesetzt: Where your money goes: the definitive atlas of UK government spending. Die Grafik zeigt, welche Ministerien und nachgeordneten Behörden wie viel Geld ausgegeben haben. Daraus wird im gedruckten Guardian eine wunderschöne Doppelseite, im Netz eine leichtgängige Flash-Grafik mit erklärender Audio-Tour.
Dazu gibt es für Ausdrucker ein PDF-Dokument zum Download und für Weiterforscher eine Google-Tabelle für eigene Berechnungen.