Oslo/Utøya

Der 22. Juli in Norwegen.

Das norwegische öffentliche-rechtliche Fernsehen NRK liefert seit gestern Nachmittag eine Glanzleistung: Ohne Unterbrechung berichten die Redakteure und Reporter in einer Sondersendung über den schwärzesten Tag in Norwegens Nachkriegsgeschichte. Wer die Breaking-News-Arien amerikanischer Sender kennt, muss NRK hohen Respekt für die Ruhe und Ernsthaftigkeit zollen, mit der das Fernsehen berichtet. (Derzeit ist der Livestream auch fürs internationale Publikum zu sehen.)

Ich habe schon auf Google+ meinen persönlichen Helden gelobt: Tore Bjørgo, Politikwissenschaftler an Norwegens Polizeihochschule mit Spezialgebiet Terrorismus. In den NRK-Hauptnachrichten um 19 Uhr sagte er, dass Terroristen ja versuchen, so viel Angst zu verbreiten, dass sich eine Gesellschaft selbst verletzt. „Wir sind es, die bestimmen sollten, in welchem Land wir leben.“ „Es liegt an uns, welche Konsequenzen das hat“.* Das sagte er wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, an dem noch niemand wusste, ob eine Einzelperson oder eine Gruppe hinter den Anschlägen steckt und die internationalen Medien überwiegend über einen islamistischen Hintergrund spekulierten.

Heute morgen ist das Fernsehen noch ruhiger. Auf die Idee, Katastrophen-Trailer zu produzieren oder die schlimmsten Bilder mit Musik zu unterlegen, ist NRK nicht gekommen. Ab und an wird gezeigt, wie der Rest der Welt reagiert, z.B. CNN:

CNN-Bildschirm: Norway Attacks mit norwegischer Flagge

Viele große Medien haben ihr Hauptquartier im Osloer Regierungsviertel. Die Mitarbeiter von TV2, VG, Aftenposten und der Nachrichtenagentur NTB mussten ihre Gebäude verlassen. VG hat dann das Webangebot und die meistgelesene Zeitung des Landes aus einem Osloer Hotel produziert, mit hastig gekauften Computern. Auch eine ziemliche logistische Meisterleistung.

Die Reaktion des offizielle Norwegen ist ein kleiner Trost. Ministerpräsident Stoltenberg erklärt mehr Demokratie, mehr Offenheit zur Antwort auf den Terror. Kein Versuch, mit erhöhten Terrorwarnstufen für Pseudo-Sicherheit zu sorgen. Es sieht zumindest am Tag danach so aus, als wenn sich die norwegische Gesellschaft nicht selbst verletzt.

*Nachtrag vom 29.7.: Die NRK-Abendnachrichten vom Anschlagstag sind jetzt online, dann kann ich die Äußerungen von Tore Bjørgo jetzt wörtlich aufschreiben. „Das Kennzeichen von Terroraktionen ist ja, dass Terroristen versuchen, Angst zu erzeugen und Reaktionen hervorzurufen, so dass sich die Gesellschaft selbst schadet. Und deshalb ist es sehr wichtig, dass nicht die Gesellschaft auf so eine Weise reagiert, wie die Terroristen es wünschen, und das ist eine große Aufgabe sowohl für die Politiker als auch für die Zivilgesellschaft, dass man Ruhe und Besonnenheit bewahrt und nicht die Terroristen bestimmen lässt, was für eine Gesellschaft wir haben sollen. Wir sind es, die bestimmen sollen, was für eine Gesellschaft wir haben wollen. […] Es liegt an uns, welche Konsequenzen wir daraus ziehen wollen.“ („Det som er kjennetegnet ved terroraksjoner er jo at terrorister forsøker å skape frykt og skape reaksjoner slik at samfunnet skader seg sjøl. Og derfor så er det veldig viktig at ikke samfunnet reagerer på en slik måte som terroristene ønsker og det er en stor oppgave både for politikerne og for det sivile samfunn at man bevarer roen og sindigheten og ikke lar terrorister bestemme hva slags samfunn vi skal ha. Det er vi som skal bestemme hvordan vi skal leve i dette landet, og da må man sørge for at man i størst mulig grad greier å bevare det samfunnet vi vil ha. […] Det er opp til oss hva slags konsekvenser vi vil dette skal ha.“)

Al-Qaida-Abo

Die Sammler von Terroristen-Videos.

Ein neues Al-Qaida-Propagandavideo enthält eine Computeranimation des Anschlags auf die dänische Botschaft in Islamabad. Als wäre das nicht erstaunlich genug: Reuters hat die Aufnahmen von IntelCenter, einem Unternehmen nahe Washington, das sich auf das Sammeln und Analysieren von Terroristenvideos und auf lehrreiche Wandkarten und Handbücher zum Thema spezialisiert hat.

Wer alle 172 DVDs mit Audios und Videos von Al-Qaida, Ansar al-Islam, bosnischen Mudschaheddin und so weiter kaufen will, zahlt dafür 6.775 US-Dollar. (Die praktischen Lehrvideos – wie man unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen herstellt – können nur bestimmte Regierungsstellen bestellen.) Angeboten wird auch ein Abonnement künftiger Terroristen-Videos, für 3.000 Dollar im Jahr.

21073 Hamburg

Die Adresse Motassadeqs in den Medien.

Im ersten Moment ein wenig ungewöhnlich, dass Spiegel Online die Adresse von Mounir al Motassadeq einschließlich Straße und sogar Hausnummer aufschreibt. Üblicher unter Journalisten ist ja, solche Adressen nicht zu nennen und dem Leser stattdessen über unnütze Details wie Baumbewuchs, Bodenbelag oder nahe Tankstellen zu signalisieren, dass der Autor sie selbstverständlich kennt.

Allerdings steht diese Adresse ja bereits in einer Pressemitteilung des UN-Sicherheitsrats und in amtlichen Publikationen Argentiniens, Belgiens, der Cayman Islands, der EU, Hongkongs, Japans, der Isle of Man, Kanadas, Liechtensteins, Macaos, Maltas, Monacos, Neuseelands, der Niederlande, Portugals, der Schweiz, Singapurs, der Slowakei, Tschechiens, der Ukraine, Ungarns und Zyperns, unter anderem.

Da kommt es vielleicht nicht mehr so drauf an.

Ziemlich schmutzig

Die Berichterstattung über die Londoner Razzia.

„In London sucht die Polizei fieberhaft nach einer ’schmutzigen chemischen Bombe'“, heißt es derzeit im Aufmacher von Spiegel Online. „Polizei sucht schmutzige Bombe“, lautet die Aufmacher-Schlagzeile von Focus Online. Diese dramatische Formulierung haben beide wiederum offenbar von Reuters. Und ab da wird die Suche nach der Quelle zunehmend zum Stochern im Nebel. Im Reuters-Original heißt es nämlich:

Some newspapers, citing unnamed security sources, said police believed suspected militants had made a „dirty“ chemical device — a conventional bomb surrounded by toxic material that could be set off by a bomber wearing a suicide jacket.

Im Reuters-Bericht folgt im Anschluss an diesen Satz ein Zitat aus der Boulevardzeitung Sun, in deren Artikel von einer schmutzigen Bombe aber keine Rede ist.

Auch nicht im Guardian, („intelligence suggested that a viable chemical or biological weapon could be inside“), in der Times („a bomb laced with cyanide“), im Telegraph („a suspected chemical bomb“, „a device using a dangerous chemical other than ricin“). In aktuelleren Artikeln ist — unter Berufung auf Sicherheitskreise — die Rede von einer „improvised device rather than a sophisticated weapon“ (Telegraph) oder „a homemade device“ statt einer „sophisticated bomb“ (BBC).

Der Begriff „schmutzige Bombe“ wurde bislang im Deutschen wie im Englischen für radiologische Waffen verwendet, nicht für chemische Kampfstoffe. Wie kommt das Wort also in den Aufmacher von Spiegel und Focus Online? Weil beide vermelden, dass Reuters berichte, dass einige Zeitungen (welche nur?) schrieben, dass ungenannte Quellen aus den Sicherheitsbehörden sagten, dass die Polizei glaube, es könnte eine „schmutzige“ chemische Vorrichtung hergestellt worden sein. (Über die tatsächliche Lage im Ostlondoner Forest Gate weiß ich selbstverständlich nichts, was nicht in den Medien berichtet wird. Aber das hier sieht nach Stille-Post-Spielen aus.)

Nachtrag: Mittlerweile verwendet auch Reuters die Formulierung „schmutzige Bombe“ nicht mehr.

Und morgen

Leichtflugzeug vor dem Reichstag abgestürzt.

Und morgen beginnt die Diskussion, was gewesen wäre, wenn das Leichtflugzeug sich nicht in die Wiese zwischen Reichstag, Paul-Löbe-Haus und Kanzleramt gebohrt hätte. Wenn der Pilot nicht auf einen Selbstmord mit Drama, sondern auf ein Drama mit Selbstmord aus gewesen wäre. Ob so etwas zu verhindern wäre, ob solche Flugzeuge auf Radarschirmen auftauchen und was das Luftsicherheitsgesetz dann nützt.