Offene Karten

Die Gespräche über Palästinas Grenzen.

Dass ein Analyst eines pro-israelischen Think Tanks in Washington Kartenentwürfe für einen palästinensischen Staat vorlegt, klingt erst einmal nur mäßig spannend. Aber die Mini-Zusammenfassung auf der letzten Seite der Studie ist dann doch dramatisch: „Das Unmögliche ist erreichbar: Israel kann die territorialen Forderungen der Palästinensischen Autonomiebehörde erfüllen und dabei seine eigenen Grenzen so anpassen, dass die große Mehrheit der Siedler im Westjordanland beinhaltet ist.“

Noch interessantere Karten haben Al-Jazeera und der Guardian am Abend veröffentlicht: Sie sind Teil der Palestine Papers, der geleakten Dokumente der palästinensischen Unterhändler bei den Nahost-Verhandlungen. Sie zeigen zum einen, welche Landtausch-Pläne die palästinensische Seite im Mai 2008 vorschlug, und zum anderen den Gegenvorschlag der damaligen israelischen Regierung unter Ehud Olmert vom August 2008. (Allerdings durfte Palästinerpräsident Mahmud Abbas die Karte nicht mitnehmen, sondern musste sie angeblich abzeichen.)

Karte dreier Vorschläge für palästinensisch-israelische Landtäusche

Und dann schaut man auf diese drei Karten und fragt sich, ob eine Einigung wirklich so unmöglich ist.

Zum Thema:
Palestine Papers beim Guardian
Palestine Papers bei Al-Jazeera
Protokoll zum palästinensischen Vorschlag 2008
Protokoll zum israelischen Vorschlag 2008
NYTimes.com: Trying to Break Logjam, Scholar Floats an Idea for a Palestinian Map
David Makovsky: Imagining the Border (komplette Studie, 7,5 MB)
Washington Institute: Interaktive Kartenanwendung zur Studie

Rekensleutel

Undercover bei den Fernseh-Anrufquizzen.

Mich hat gerade ein fast 40 Minuten langes Video in einer Sprache, die ich kaum beherrsche, begeistert:


Die Basta-Folge zu Anrufquizzen bei YouTube

Die Macher von Basta, einer satirisch-investigativen Sendung im belgischen öffentlich-rechtlichen TV-Programm Eén, setzen sich mit Anrufquizzen auseinander.

Nicht nur, indem sie die merkwürdigen Tiere, deren Namen die Anrufer raten müssen, im Zoo suchen; nicht nur, indem sie die bizarren Spielregeln als Jahrmarktgaukler nachspielen. Viel besser: Sie knacken den Rechenschlüssel für die dubiosen Zählaufgaben (PDF-Erklärung) — und schmuggeln einen der ihren mehrere Monate lang als Moderator ein.

Einen Tag nach der Basta-Ausstrahlung haben die Sender VTM und 2BE angekündigt, die Anrufquizze einzustellen.

Nachtrag: Eine Version mit deutschen Untertiteln und den Link zu einer synchronisierten Fassung gibt es bei Fernsehkritik-TV.

Ein paar Verständnishilfen:
bellers = Anrufer
belspelletjes = Telefonspiele
mol = Maulwurf
kijker = Zuschauer
kans = Chance
drie uur lang = drei Stunden lang
kansspel = Glücksspiel
staatssecretaris voor de Coördinatie van de fraudebestrijding = Staatssekretär für die Koordination der Betrugsbekämpfung
K.B. (Koninklijk Besluit) = Regierungserlass, in diesem Fall zur Anrufquiz-Regulierung
telsleutel = Zählschlüssel
rekensleutel = Rechenschlüssel

police.uk

Vermisstensuche mit Social Media.

Das Avon and Somerset Constabulary, ein Polizeibezirk im Südwesten Englands, sucht eine vermisste Frau — suchte, muss man nach dem Fund einer Toten wohl leider sagen. Bemerkenswert ist, wie so eine Suche auf einer britischen Polizei-Website aussehen kann.

Zunächst einmal gibt es dafür eine Webadresse, die zwar immer noch zu lang ist, aber vielleicht gerade noch auf Fernsehbildschirme passt: http://avonandsomerset.police.uk/jo ist ein Redirect zur eigentlichen Seite. Dort gibt es (1) eine Karte mit den Orten, an denen sich die Vermisste zuletzt aufgehalten hat, (2) ein Video mit einem Appell der Eltern, (3) einen Kasten mit Twitter-Einträgen zum Stichwort #helpfindjo, (4) Meldungen und Fotos — die Bilder enthalten alle die URL der Website — sowie (5) Social-Bookmarking-Buttons. Dazu gibt es ein Online-Kontaktformular für Hinweise.

Screenshot von der Website der Polizei von Avon und Somerset
(Die Fotos auf dem Screenshot sind von mir unkenntlich gemacht.)

Ich weiß natürlich nicht, wie lange es seit dem Verschwinden der Frau am 17.12. gedauert hat, bis die Website so aussah. Aber zum Vergleich: So sieht Ende 2010 die Website der Polizei Niedersachsen aus, die fast viermal so groß ist wie das Avon and Somerset Constabulary.

Leck geschlagen?

Wikileaks-Verwirrung um Aftenposten.

Spiegel Online meldet derzeit, dass Aftenposten Zugang zu den 250.000 Botschaftsdepeschen hat, die im Besitz von Wikileaks sind.

Datenleck: Norwegische Zeitung soll WikiLeaks-Dokumente erhalten haben - Gibt es ausgerechnet bei WikiLeaks ein Datenleck? Eine norwegische Tageszeitung meldet, ihr seien mehr als 250.000 US-Geheimdokumente zugespielt worden. Diese hätten sich vorher im Besitz der Enthüllungsplattform befunden.

Nun sei die Zeitung möglicherweise „das einzige Medium weltweit, das den kompletten WikiLeaks-Datenbestand veröffentlichen könnte“. Hmmm… das einzige weltweit außer Wikileaks selbst, New York Times, The Guardian, Le Monde, El País und dem Spiegel, oder nicht?

Die norwegische Zeitung hatte schon vor fast einer Woche verkündet, dass auch Aftenposten nun über das komplette Material verfüge und es uneingeschränkt nutzen dürfe. Vorher hatten Aftenposten und Svenska Dagbladet Zugang zu etwa 2.000 Dokumenten erhalten — so viele hat Wikileaks bereits selbst im Web veröffentlicht. Das Blatt hat natürlich nicht vor, den kompletten Datenbestand zu veröffentlichen, sondern macht, was alle anderen beteiligten Medien auch tun: abwägen und ausgewählte Auszüge drucken.

Wikileaks hatte vorher angekündigt, weitere Medienpartner in anderen Ländern zu suchen — bei Aftenposten gibt es nirgends einen Hinweis, dass Aftenposten das Material von irgendwem anders als von Wikileaks selbst erhalten hat. Wäre das so, hätte Aftenposten das mit ziemlicher Sicherheit erwähnt, denn das wäre ja an sich schon eine Sensation. Ausgelöst hat den Spiegel-Online-Bericht wohl eine Meldung der norwegischen Nachrichtenagentur NTB, die sich wiederum auf einen Bericht der norwegischen Wirtschaftszeitung Dagens Næringsliv (DN) beruft. Der interviewte Aftenposten-ChefRedakteur wollte DN die Quelle für die Depeschen nicht nennen. DN schreibt aber, Aftenposten habe den Zugang zu den Dokumenten „ohne Einverständnis von Wikileaks-Chef Julian Assange“ bekommen. Das allein wäre natürlich nicht sehr überraschend, da Assange bekanntlich derzeit ein oder zwei andere Probleme hat.

Bloomberg vermeldet übrigens, dass auch die russische Novaya Gazeta jetzt US-Botschaftsdepeschen von Wikileaks bekommen hat. Allerdings handelt es sich laut Bloomberg um eine Auswahl von Depeschen, die Russland betreffen.

Je mehr Redaktionen bislang unveröffentlichtes Material bekommen, desto höher ist aber natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine mit den Daten nicht sorgfältig genug umgeht.

Nachtrag 1: Oh, es wird noch interessanter, was Wikileaks und den skandinavischen Raum angeht (via). Derjenige, der bislang den Zugang der skandinavischen Medien zu den Depeschen gefiltert hat, heißt Johannes Wahlström; sein Vater Israel Shamir ist der Wikileaks-Ansprechpartner für die russischen Medien. Israel Schamir wird von Sveriges Radio als berüchtigter antisemitischer Kommentator bezeichnet, in Interviews spricht er von einer „Vergötterung des Holocausts“. Der Guardian-Blogger und Autor Andrew Brown hat ebenfalls etwas zu den merkwürdigen Wikileaks-Repräsentanten geschrieben. Für diese länderspezifischen Enthüllungen spielt Wikileaks also selbst Gatekeeper — eine interessante Konstellation.

Nachtrag 2: Auf einer norwegischen Medienseite gibt es noch ein paar Details: Aftenposten-Redakteur Ole Erik Almslid sagt, dass seine Zeitung den Zugang ohne Verpflichtungen erlangt habe und dafür auch nicht gezahlt habe. Aftenposten müsse weder Artikel schreiben noch die Dokumente im Netz veröffentlichen. (Wikileaks hatte vorher Svenska Dagbladet Material für Skandinavien gegeben und die schwedische Zeitung gab sie an das norwegische Schwesterblatt weiter. Auch dabei sei Svenska Dagbladet keinerlei Absprache mit Wikileaks eingegangen, sagte der SvD-Chefredakteur Mitte Dezember.)

Nachtrag 3: Nun erinnert sich der Spiegel wieder – Spiegel Online hat den Artikel etwas entdramatisiert und so umgeschrieben, dass Aftenposten nicht mehr das weltweit einzige Medium im Besitz aller Depeschen ist.

Verrat und Kalkül

Von Wikileaks zu West Wing.

Felix Schwenzel schreibt:

jetzt wo ich wie mathias richelthe west wing“ zum zweiten mal gucke, habe ich das gefühl, dass aaron sorkin mehr über die regierung der vereinigten staaten verraten hat, als wikileaks.

(Und er schreibt dann weiter darüber, wie Filter-Infrastruktur und Wikileaks und „Denkt denn niemand an die Kinder?“ zusammenhängen. Ich muss dabei sofort an die Diskussionen rund um ICANN und die Kontrolle über das Domainnamensystem vor etwa zehn Jahren denken. Es gab einige übertrieben paranoide Vorstellungen von der Allmacht der Rootserver und es gab einige übertrieben naive Vorstellungen davon, dass es an dieser Stelle nur um Technik geht oder gehen sollte.)

In „West Wing“ ist die Frage, wer wann etwas weiß und was wann wie an die Öffentlichkeit kommt, ein zentrales Thema: die Gratwanderung zwischen Verschweigen, Lügen, Spin und Manipulation. Leaks sind dabei nicht nur Regierungspannen oder Journalistenerfolge, sondern auch Machttechnik: Sie werden eingesetzt, um Gegnern zu schaden, um die Veröffentlichung anderer Artikel zu verhindern oder um kurz vor einer dramatischen Erklärung den Boden aufzulockern, den Schock zu dämpfen. Umgekehrt werden Krisen bei „West Wing“ mitunter auf eine Weise gelöst, die Geheimhaltung erfordert — Kompromisse, die das Gesicht wahren; Lösungen, auf die die Beteiligten möglicherweise zehn Jahre später stolz sind, die aber nicht klappen würden, wäre alles völlig transparent. Wer Politik nur in sattem Schwarz oder Weiß mag, wird „West Wing“ nicht mögen.

(Wer immer noch nicht neugierig ist, möge Anke Gröners Lobeshymne auf „West Wing“ lesen. Ich bin im Moment bei der dritten Staffel, zum zweiten oder dritten Mal. Diesmal ist mir unter anderem in Folge 1-06 aufgefallen, dass ein geplantes Vulkanobservatorium verspottet wird, das Flugzeuge vor Aschewolken warnen soll. Die Folge lief zehneinhalb Jahre, bevor jemand außerhalb Islands Eyjafjallajökull aussprechen konnte.)