Kalte Füße

Der Blogger, das Gold und die Startbahn.

Eine Vorwarnung: Das hier ist eine Geschichte über Island, es wird also ziemlich kalt. Außerdem enthält sie ein Rätsel, das auch am Ende noch nicht gelöst ist. Zum Trost lernen wir dafür ein paar Brocken Isländisch.

Kiste mit isländischer Flagge und goldenen Spuren

Es geht abermals um die Geschichte des Redakteurs, der sich im Spiegel beklagt, dass sein Sohn keine Zeitung mehr liest. Ralf Hoppe führt gegen das Internet an, die Isländer hätten die Finanzkrise ihres Landes deshalb nicht verstanden, weil es dort keine guten Journalisten mehr gegeben habe, sondern „Blogs und Volksreporter“. Das belegt er anschaulich:

„Gerüchte flammten auf, die Regierung würde zum Beispiel die Goldschätze aus der Zentralbank ins Ausland bringen, alle Isländer müssten am nächsten Morgen auf dem Flughafen stehen und die Startbahn blockieren, dieser Aufruf machte die Runde. Es war eisiger Winter. Und die Regierung hatte nicht im Traum daran gedacht, irgendwelche Goldschätze in Milliardenhöhe ins Ausland zu bringen. Aber die Isländer machten sich in der Nacht auf, blockierten ebenso tapfer wie sinnlos anderthalb Tage die Startbahn, bis alle steifgefroren waren. Der Erfinder dieses Gerüchts, der Blogger, wer immer es war, hat eine Menge kalter Füße und Blasenentzündungen zu verantworten.“

Wir sehen die Szene vor Augen: Hunderte, wenn nicht Tausende Isländer, die stundenlang in dicken Isländerpullovern auf einer verschneiten Rollbahn stehen. Womöglich wären sie längst nach Hause gegangen, wenn da nicht immer neue Fotografen und Kameraleute gekommen wären. Und „der Blogger, wer immer es war“, sitzt gemütlich im Wohnzimmer am Computer und trinkt heißen Tee. (Tee heißt übrigens te auf Isländisch. Isländisch ist nicht immer schwierig.)

Ein absurder Vorfall, zu dem es mit Sicherheit jede Menge Berichte gegeben hat. Oder: haben müsste. Aber ein paar erste Suchversuche mit Kombinationen von Island, Flughafen, Blockade, Zentralbank, Gold, Startbahn führen ins Nichts. Wer es auf Englisch probiert, wird leider auch nicht schlauer.

Dank Internet ist der Weg zu einem Isländisch-Wörterbuch ja kurz: Das isländische Wort für Landebahn ist flugbraut. Die Zentralbank heißt seðlabanka, mit einem drolligen ð, und der internationale Flughafen Keflavik nennt sich Keflavíkurflugvöllur. Aber auch wenn wir so wunderschöne Wörter in die leitarvél, pardon: Suchmaschine eingeben, bleibt die Startbahn-Story unentdeckt.

Es hilft nichts: Fragen wir Isländer. Und mit „wir“ ist auch Bastian Brinkmann gemeint, Wirtschaftsredakteur bei Süddeutsche.de. Da ihn ebenfalls das Rollbahngoldfieber gepackt hat, fragt er Baldur Hedinsson, einen Mathematiker, der bei der renommierten NPR-Sendung „Planet Money“ ein Praktikum gemacht hat. Hedinsson, der Island-Erklärer für NPR, sagt, dass er von der Geschichte noch nie etwas gehört hat: „I’d be amazed if it ever happened.“ Er hat auch noch mal herumgefragt, ebenso erfolglos.

Guðjón Már Guðjónsson hat 2010 das Isländische Nationalforum nach der großen Krise mitorganisiert. Die Flughafenbesetzung? „I have never heard this story before“. Er fragt bei seinen Facebook-Freunden nach und erntet dafür 28 Likes und neun Smileys. (Einer schlägt vor, mir gephotoshoppte Bilder von eingefrorenen Demonstranten zu schicken. Das stößt auf Zuspruch.)

Wir können auch Isavia fragen, das ist die Gesellschaft, die Islands Flughäfen betreibt. Dort ziert man sich nicht, auf die merkwürdige Anfrage zu reagieren: Das sei eine großartige Geschichte, schreibt mir der Isavia-Sprecher sofort zurück, bedauerlicherweise ohne ein Fünkchen Wahrheit, aber dennoch großartig.

Aber was nützt schon das Dementi von 30 Isländern, wenn es mehr als 300.000 von ihnen gibt? Vielleicht war es ja ein besonders kleiner und abgelegener Flughafen, bei dem ein Dutzend willensstarke Leute genügen zum Blockieren; vielleicht hat die Presse nie davon Wind bekommen. Aber so klingt die oben zitiere Textpassage eigentlich nicht. (Ein Rätsel heißt übrigens ráðgáta auf Isländisch.)

Der Spiegel-Autor hat die Anekdote gewählt, um zu zeigen, wie „eine vernetzte, bloggende Gesellschaft“ wie Island endet, wenn die althergebrachten Medien schwächeln.

„Darauf lief es hinaus: kalte Füße, und das Fehlen der vierten Gewalt. Eine neue Ungenauigkeit. Ich hoffe, man wird sich daran nicht gewöhnen müssen.“

Wie schon am Anfang angekündigt, bleibt das Rätsel um den Blogger, das Gold und die Startbahn am Ende ein Rätsel. Ich fürchte, bei mir hat das Plädoyer für die „knisternden“ Medien, um die es dem Autoren ja geht, eher für mehr Skepsis gesorgt. Aber das ist ja das Wunderschöne am Internet: Jeder, der mag, kann ja selbst weitersuchen und Isländer fragen. Wenn jemand fündig wird, bekommt die Geschichte ein neues Ende.

(Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass ich kurz im Mailkontakt mit dem Autoren stand, aber daraus nichts veröffentliche. Wir sind hier ja nicht bei den Piraten.)

Nachtrag: Im Spiegelblog äußert sich jetzt der Autor Ralf Hoppe zur Kritik.

(Ein paar andere haben darauf schon reagiert: Detlef Gürtler schreibt von einer Fast-Entschuldigung und hat nicht den Eindruck, die deutschen Medien hätten die Finanzkrise verlässlicher und vertrauenswürdiger begleitet als die isländischen. Dirk von Gehlen sieht die Angelenheit als Indiz dafür, wie das Netz den Journalismus und den Journalistenberuf verändert. Felix Schwenzel findet Hoppes Antwort trotzig und selbstmitleidig und liest in ihr, wie sich der gefühlte Bedeutungsverlust einer einst allmächtigen Redaktion wiederspiegelt.)

Die Geschichte auf Island hat jetzt also doch ein Ende bekommen. Der Nachsatz mit dem Mailkontakt, der offenbar bei manchen wilde Spekulationen ausgelöst hat, kann weg, jetzt, wo sich der Autor selbst zu Wort meldet. Die Demonstranten habe er selbst Anfang 2009 in Reykjavík gesehen, schreibt er; sie seien da gewesen, um die Startbahn zu blockieren, hätten aber ihr Vorhaben nicht umgesetzt. Dass einige Demonstranten vor dem Flughafengebäude keine tiefen Spuren hinterlassen haben, verwundert nicht. Wie daraus eine anderthalb Tage lange Blockade geworden ist, ist mir weiterhin nicht ganz klar. Hoppe verweist auf seinen (im Spiegelblog nicht verlinkten) Artikel Das Crash-Labor von 2009. Dort spielen Flugzeuge und Gerüchte auch eine Rolle, aber es geht nicht ums Gold der Zentralbank, sondern um Privatleute und Koffer voller Bargeld. Aber wer will schon Gerüchte nachrecherchieren? Und wenn der Autor selbst der Augenzeuge ist, kann auch die renommierte Spiegel-Dokumentation ein Geschehnis weder be- noch widerlegen. Insofern ist es an der Zeit, das Island-Kapitel zuzuklappen.

Im großen Topf

Wenn Spiegel-Söhne nicht genug lesen.

„Volksreporter – Wie sich das Leben verändern wird, wenn unsere Kinder keine Zeitung mehr lesen“: Ein Text im Print-Spiegel (6/2013), der so angekündigt wird, lässt nicht unbedingt Gutes erwarten. Ralf Hoppe, ein erfahrener Reporter und Redakteur, hat sich angeschaut, wo und wie sich sein Sohn und seine Freunde informieren: „Die Informationen, die sie brauchen, holen sie sich in den sozialen Netzwerken, via Twitter oder auf Facebook (…)“.

Ist das ein typischer Fall? Zur Mediennutzung von Jugendlichen gibt es eine etwas albern benannte Studienreihe namens JIM, eine repräsentative Befragung von Menschen zwischen 12 und 19 Jahren. Dass 91 Prozent der befragten Jugendlichen mehrmals pro Woche ins Netz gehen, davon 68 Prozent sogar täglich, passt ins Bild. Aber immerhin 41 Prozent geben an, mehrmals pro Woche eine Tageszeitung zu nutzen, 26 Prozent sogar täglich. Ebenfalls klar: Für 12- bis 13-Jährige hat die Zeitung keinen so hohen Stellenwert wie für 18- bis 19-Jährige. Das Renommee der Zeitungen ist übrigens auch unter Jugendlichen hoch: Wenn sich Medienberichte widersprechen, vertrauen junge Menschen der Zeitung mehr als Fernsehen, Radio oder Internet; dieser Vertrauensvorsprung ist unter Gymnasiasten noch viel stärker ausgeprägt. (Hier sind die Daten zum Nachlesen.)

Wie sieht der Trend aus?

Jugendliche lesen in der Tat allmählich seltener Zeitung, nutzen viel häufiger das Internet, dabei aber auch nur selten die Onlineangebote der Tageszeitungen.

Dass 41 Prozent der Jugendlichen öfters Zeitung lesen, hängt natürlich stark von den Eltern ab: 2012 hatten 59 Prozent der Haushalte mit Jugendlichen eine Zeitung abonniert.

Um die Jahrtausendwende hat sich aber noch etwas getan: 1998 sagte noch jede/r dritte Jugendliche, dass er oder sie zur Zeitung greift, um schnell Informationen zu suchen. 2002 war es nicht einmal jede/r zehnte Jugendliche. Umgekehrt stieg der Anteil derjenigen, die zum Computer greifen, von 19 Prozent auf 73 Prozent — in nur vier Jahren. Vermutlich steckt dahinter eine Vielzahl von Gründen: Die Zahl der Computer im Haushalt, die Zahl der eigenen Computer unter Jugendlichen, die Internet-Geschwindigkeit, womöglich auch die Verfügbarkeit von Google. Im Internet nach Informationen zu suchen, war für junge Menschen plötzlich einfacher.

Aber zurück zum Spiegel-Redakteur Ralf Hoppe und seinen Beobachtungen: „Nachrichten im sozialen Netz haben keinen Anfang, keinen Ursprung. Sie sind einfach plötzlich da. Erklärungslos, dafür meinungslastig, emotional.“ Da stellt sich die Gegenfrage: Was ist denn bei einer Nachricht in einer Zeitung der Ursprung? Die Zeitung? Dann kann ich es mir im Netz auch einfach machen und den Ort nehmen, an dem ich die Meldung zuerst gelesen haben — Quelle: Twitter. Aber eine Zeitungsmeldung kann natürlich ebenso auf einer Agenturmeldung beruhen, die auf einem Zeitungsbericht über eine Fernsehansprache beruht.

Dass die sozialen Netzwerke in sich geschlossen seien und nicht in die Onlinemedien-Welt zurück verlinkten, ist natürlich Unsinn: Vor allem Facebook ist für Onlinemedien eine wichtige Quelle von Besuchern. Wenn Ralf Hoppes Sohn über Facebook und Twitter auf etwas stößt, was ihn interessiert, und weiterklickt, dann landet er aber in der Tat am Ende bei einem Onlinemedium — das ist das Wesen der Internets. Die Zeitung wird erst dann Teil dieser Welt, wenn sie im Netz ist.

Meinungslastig und emotional: Da ist was dran. Reine Nachrichtenmeldungen schaffen es nur in Ausnahmefällen zu weitester Verbreitung, flammende Plädoyers und geschliffene Repliken haben viel bessere Chancen. Da machen soziale Netzwerke allerdings vermutlich etwas transparent, was auch schon in der Print-Welt galt, aber nicht sichtbar wurde. Für jemanden, der wie Hoppe Reportagen schreibt, muss das übrigens keine schlechte Nachricht sein.

Leider führt die Beobachtung den Spiegel-Autoren aber dann doch zur Generalabrechnung mit „dem Internet“: Soziale Netzwerke und Blogs und „das Medium“ werden in einen großen Topf geworfen. Dass Islands Blogger auf dem Höhepunkt der Finanzkrise womöglich auch nicht besser informiert waren als Zeitungen, Radio und Fernsehen, ist für ihn der Beleg, dass es bergab geht. Ja, natürlich sind Facebook und Twitter auch Gerüchte-Verstärker. Wer alles glaubt, was in der Bild-Zeitung steht, ist auch im Internet auf verlorenem Posten. Aber dafür wird sein Sohn, wenn er es richtig anstellt, mitunter nicht nur schneller, sondern auch vielseitiger darüber informiert sein, was ihn interessiert. (In einer Woche wird der Spiegel-Text ja online veröffentlicht, dann sieht ihn auch sein Sohn.)

Nachtrag: Dirk von Gehlen schreibt über die journalistische Familie: „Wer den Datenstrom der sozialen Netze mit einer italienischen Piazza vergleicht, sollte schon anerkennen, dass dort sehr wohl auch professionelle Journalisten herumspazieren und den Dialog mit ihren Nutzern suchen.“

Nachtrag: Ein Blick auf den Blogger, das Gold und die Startbahn.

Leck geschlagen?

Wikileaks-Verwirrung um Aftenposten.

Spiegel Online meldet derzeit, dass Aftenposten Zugang zu den 250.000 Botschaftsdepeschen hat, die im Besitz von Wikileaks sind.

Datenleck: Norwegische Zeitung soll WikiLeaks-Dokumente erhalten haben - Gibt es ausgerechnet bei WikiLeaks ein Datenleck? Eine norwegische Tageszeitung meldet, ihr seien mehr als 250.000 US-Geheimdokumente zugespielt worden. Diese hätten sich vorher im Besitz der Enthüllungsplattform befunden.

Nun sei die Zeitung möglicherweise „das einzige Medium weltweit, das den kompletten WikiLeaks-Datenbestand veröffentlichen könnte“. Hmmm… das einzige weltweit außer Wikileaks selbst, New York Times, The Guardian, Le Monde, El País und dem Spiegel, oder nicht?

Die norwegische Zeitung hatte schon vor fast einer Woche verkündet, dass auch Aftenposten nun über das komplette Material verfüge und es uneingeschränkt nutzen dürfe. Vorher hatten Aftenposten und Svenska Dagbladet Zugang zu etwa 2.000 Dokumenten erhalten — so viele hat Wikileaks bereits selbst im Web veröffentlicht. Das Blatt hat natürlich nicht vor, den kompletten Datenbestand zu veröffentlichen, sondern macht, was alle anderen beteiligten Medien auch tun: abwägen und ausgewählte Auszüge drucken.

Wikileaks hatte vorher angekündigt, weitere Medienpartner in anderen Ländern zu suchen — bei Aftenposten gibt es nirgends einen Hinweis, dass Aftenposten das Material von irgendwem anders als von Wikileaks selbst erhalten hat. Wäre das so, hätte Aftenposten das mit ziemlicher Sicherheit erwähnt, denn das wäre ja an sich schon eine Sensation. Ausgelöst hat den Spiegel-Online-Bericht wohl eine Meldung der norwegischen Nachrichtenagentur NTB, die sich wiederum auf einen Bericht der norwegischen Wirtschaftszeitung Dagens Næringsliv (DN) beruft. Der interviewte Aftenposten-ChefRedakteur wollte DN die Quelle für die Depeschen nicht nennen. DN schreibt aber, Aftenposten habe den Zugang zu den Dokumenten „ohne Einverständnis von Wikileaks-Chef Julian Assange“ bekommen. Das allein wäre natürlich nicht sehr überraschend, da Assange bekanntlich derzeit ein oder zwei andere Probleme hat.

Bloomberg vermeldet übrigens, dass auch die russische Novaya Gazeta jetzt US-Botschaftsdepeschen von Wikileaks bekommen hat. Allerdings handelt es sich laut Bloomberg um eine Auswahl von Depeschen, die Russland betreffen.

Je mehr Redaktionen bislang unveröffentlichtes Material bekommen, desto höher ist aber natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine mit den Daten nicht sorgfältig genug umgeht.

Nachtrag 1: Oh, es wird noch interessanter, was Wikileaks und den skandinavischen Raum angeht (via). Derjenige, der bislang den Zugang der skandinavischen Medien zu den Depeschen gefiltert hat, heißt Johannes Wahlström; sein Vater Israel Shamir ist der Wikileaks-Ansprechpartner für die russischen Medien. Israel Schamir wird von Sveriges Radio als berüchtigter antisemitischer Kommentator bezeichnet, in Interviews spricht er von einer „Vergötterung des Holocausts“. Der Guardian-Blogger und Autor Andrew Brown hat ebenfalls etwas zu den merkwürdigen Wikileaks-Repräsentanten geschrieben. Für diese länderspezifischen Enthüllungen spielt Wikileaks also selbst Gatekeeper — eine interessante Konstellation.

Nachtrag 2: Auf einer norwegischen Medienseite gibt es noch ein paar Details: Aftenposten-Redakteur Ole Erik Almslid sagt, dass seine Zeitung den Zugang ohne Verpflichtungen erlangt habe und dafür auch nicht gezahlt habe. Aftenposten müsse weder Artikel schreiben noch die Dokumente im Netz veröffentlichen. (Wikileaks hatte vorher Svenska Dagbladet Material für Skandinavien gegeben und die schwedische Zeitung gab sie an das norwegische Schwesterblatt weiter. Auch dabei sei Svenska Dagbladet keinerlei Absprache mit Wikileaks eingegangen, sagte der SvD-Chefredakteur Mitte Dezember.)

Nachtrag 3: Nun erinnert sich der Spiegel wieder – Spiegel Online hat den Artikel etwas entdramatisiert und so umgeschrieben, dass Aftenposten nicht mehr das weltweit einzige Medium im Besitz aller Depeschen ist.

Zu viel

Ein Blick auf die Warlogs aus dem Irak.

Wenn ich die Irak-Warlogs-Daten nehme, die der Guardian als Google Fusion Table aufbereitet hat, sind die Daten bereits gefiltert — die Tabelle enthält nur die Warlogs, in denen ein Tod vermeldet wird.

Und selbst wenn ich dies weiter beschränke auf Explosionen von Sprengfallen („IED explosions“) und dann noch einmal eingrenze auf diejenigen mit mindestens 20 Todesopfern und schließlich nur die Umgebung auf Bagdad zeige, sieht die Karte am Ende so aus:

So sieht das Ganze als Zeitleiste aus (IED-Explosionen mit mindestens 20 Todesopfern):

Anders gesagt: Es ist zu viel. Auf der Guardian-Karte befinden sich zehntausende Punkte, die für einen oder mehrere Toten stehen. Das ist höchstens noch beeindruckend, aber jenseits jeder Erfassbarkeit.

Auch bei der Anonymisierung, um die so viel gestritten wurde, zeigt sich, dass es schlicht zu viel ist. Wikileaks hat selbst den radikalsten Ansatz gewählt und so viele Wörter durch Unterstriche ersetzt, dass aus mancher Meldung ein rätselhafter Lückentext geworden ist („THREAT TO ___ BY /___ SE OF HIT“).

Guardian und Spiegel bieten große Teile der Datenbank selbst im Netz an und verraten mitunter mehr als Wikileaks.

Ein Beispiel aus dem Wikileaks Diary Dig: „At 020930COCT06, a ___ IA who worked for Military Intelligence was murdered. The E ___ is ___ and was born is ___. He was shot by three 9mm rounds to the ___ and neck“.

Die Spiegel-Flashgrafik und die Guardian-Karte zeigen dagegen den vollen Namen (blaue Balken von mir), weil er im Titelfeld steht – das scheint aber eher eine Ausnahme zu sein. Wikileaks zeigt nicht nur das Titelfeld, sondern den gesamten Eintrag, verstümmelt ihn dabei aber so sehr, dass sich der Inhalt manchmal kaum rekonstruieren lässt.

Spiegel-Auszug aus US-Bericht zum Irakkrieg
(Der Spiegel)

Guardian-Karte zum Irakkrieg
(The Guardian)

Ein weiteres Beispiel, diesmal mit Links: Bei Wikileaks lautet die Meldung kryptisch „ASSASSINATION OF __“. Baut man die Ziffern- und Zahlenkombination (ReportKey) und das Datum korrekt in die URL der Spiegel-Flashgrafik ein (#id=D79BD9C5-2BA3-4B5F-A2BA-10E779EACED1&date=9.3.2005), erfährt man, dass eine Übersetzerin umgebracht wurde. Womöglich ist es Nawal Mohammed, die in einem AP-Bericht von 2005 bereits namentlich erwähnt wurde.

Das führt auch schon zum letzten Punkt, den Sozialpsychologen Scope-Severity Paradox nennen. Das Experiment: Ein fiktiver Finanzbetrüger hat drei Leute um ihr Geld gebracht — wie lange soll er dafür ins Gefängnis? Die Befragten schicken ihn im Mittel für 6,4 Jahre hinter Gitter. Wenn er zehn Mal mehr Leute um ihr Geld gebracht hat, sind es dagegen nur 5,5 Jahre. Das ist leider nicht nur in der Welt der Psychologie-Experimente so, sondern auch bei realen Schadenersatzprozessen. Wired bringt es auf den Punkt: „The More Victims, the Less Severe the Judgment“.

Wenn Menschen schon mit 30 Betrugsopfern überfordert sind, welche Bedeutung hat dann die Zahl 109.032 (Todesopfer im Irak)? Welche Bedeutung hat es, dass die Zahl der zivilen Opfer um 15.000 höher liegt als vorher gedacht? Vielleicht sind es ja eher gut gewählte Auszüge (wie A day in the life of the war beim Guardian), die bei einem Leser einen bleibenderen Eindruck hinterlassen.

Nachtrag: Weitere schöne Beispiele dafür, wie radikal Wikileaks die Warlogs säubert — zu den nicht angezeigten Wörtern gehören auch MICROSOFT und… IRAQ.

Mehr zum Thema:

"ICANN, übernehmen Sie!"

Neue Spiegel-Titelstory mit altem Helden.

Spiegel-Titel Netz ohne Gesetz – warum das Internet neue Regeln braucht Die Spiegel-Titelstory „Netz ohne Gesetz – warum das Internet neue Regeln braucht“ (anfangs kostenpflichtig, später kostenfrei) ist erfreulich differenziert, nennt ungelöste Probleme und stellt vor allem viele Fragen. Völlig überraschend und bizarr ist allerdings die Schlusspointe: Auf der letzten Seite bringen die fünf Autoren ICANN ins Spiel, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, und konstruieren sie zum potenziellen Heilsbringer um. Ich dachte, wir hätten diese Zeiten hinter uns.

Auf ICANN kommt das Autorenquintett über das Thema Domainstreitigkeiten — angeblich der Nukleus einer „digitalen Verfassung“, die „auch ohne völkerrechtliche Anerkennung Geltung gewonnen“ habe. Ja, es gibt ein von ICANN beschlossenes internationales Schiedsverfahren namens UDRP (Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy). Was es nicht gibt, ist das im Spiegel-Artikel erwähnte „Schiedsgremium der ICANN, eine Art Welt-Netzgericht“, denn ICANN entscheidet gar nicht selbst über solche Domainstreitigkeiten.

Es gibt derzeit vier Schiedsstellen, bei denen man so ein Verfahren beantragen kann – und die mit den weitaus meisten Fällen ist diejenige der WIPO, der Weltorganisation für geistiges Eigentum. Die UDRP ist also kein klassisches Völkerrecht, wird aber von Institutionen des klassischen Völkerrechts mitgetragen und basiert indirekt auf internationalen Vereinbarungen: Die Richtlinie definiert nicht, was ein Warenzeichen ist, das ergibt sich aus nationalem und internationalem Recht. Und wer das UDRP-Verfahren vor der Schiedsstelle verliert, kann anschließend vor ein normales Gericht ziehen.

Kurz gefasst: Dieses Domain-Schiedsverfahren ist allerhöchstens Rechtsprechung ultralight. Wo kommt dann also dieses dramatische Zitat her, das der Spiegel ICANN unterschiebt?

„Das Internet ist vor allem das Gerüst der globalen Kommunikation, und die Freiheit des Wortes sollte eine der Grundlagen des Internetrechts sein.“

Womöglich haben die Spiegel-Autoren diesen Satz in einem sechs Jahre alten Text des Frankfurter Juraprofessors Gunther Teubner (PDF) gefunden, aus dem auch die Gedanken zu „Lex digitalis“ und „Lex mercatoria“ stammen. Das Zitat steht in einer UDRP-Entscheidung aus dem Jahr 2000, verfasst von einem Ein-Personen-Panel, besetzt mit einer amerikanischen Juristin, in einer Auseinandersetzung zwischen einem Amerikaner und der Firma Bridgestone Firestone. Dass sie dabei amerikanische Maßstäbe von Freedom of Speech anwendet, ist einigermaßen nachvollziehbar.

Aber an dieser Stelle wird aus dem Domainstreit zwischen einer Reifenfirma und einem unzufriedenen Ex-Mitarbeiter vor neun Jahren plötzlich ein genereller Lösungsansatz für Internet-Probleme — und die Spiegel-Autoren verlieren ein wenig die Bodenhaftung. Hier muss einmal der ganze Absatz zitiert werden:

„Freiheit zuerst – keine staatliche Verfassung der Erde, nicht die Menschenrechte und kein göttliches Gesetz haben die Juristen von ICANN für diese Erkenntnis zitiert. Sie haben es einfach hingeschrieben. Weil irgendjemand ja entscheiden muss.“

Es waren nicht die Juristen von ICANN, sondern eine einzelne Juristin der WIPO-Schiedsstelle, und im Vorfeld zitiert sie das US-Bundesbezirksgericht für das westliche New York und das für Zentral-Kalifornien, das US-Bundesberufungsgericht für den zweiten Bezirk und für den neunten Bezirk. (Es braucht auch nicht viel Fantasie, um zu erraten, woher die amerikanischen Richter das mit der Redefreiheit wohl haben.)

Wer ernsthaft glaubt, ICANN könne möglicherweise „den internationalen Zirkus der von den Staaten angetriebenen Konsenssuche ersetzen“, hat noch nie an einer ICANN-Tagung teilgenommen. „Weltweit gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe“ klingt gut auf dem Papier, aber die Akteure im ICANN-Prozess haben extrem unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung. Das fängt schon mit den Flugtickets für den internationalen Wanderzirkus ICANN an, der Ende Oktober in Seoul, Mitte März 2010 in Nairobi, im Juni in Europa und im Dezember in Südamerika tagt – wer nur über das Netz teilnimmt, kann weitaus weniger Einfluss nehmen. Vor allem aber sind die Staaten bei ICANN keineswegs außen vor: Sie sind formell und informell eingebunden und können, wenn sie es wollen, jede ICANN-Entscheidung auf einem der beiden Wege stoppen. Die US-Regierung hat über Verträge einen besonderen Trumpf, aber auch die Europäische Union, Australien oder Japan sind wichtige Spieler.

Die letzte Seite des Spiegel-Artikels ist ein merkwürdiger Flashback ins Jahr 2000, als nicht nur Spiegel Online im ICANN-Rausch war, Peter Glotz vom „regierten Cyberspace“ sprach und sich alle auf die Online-Wahl der ICANN-Direktoren stürzten. Im Jahr 2009 ist ICANN eines der Themen, bei denen selbst heise-Forenkommentatoren nicht mehr viel einfällt, die Online-Wahl ist längst wieder abgeschafft, die US-Regierung spielt ihre Sonderrolle weiterhin und für neue Domainendungen interessieren sich auch nicht mehr ganz so viele.

Nota bene: Ich will ICANN nicht schlechtreden, sondern im Gegenteil vor überzogenen Vorstellungen in Schutz nehmen. Dass das Domainnamensystem den Übergang vom Wissenschaftler-Internet zum globalen Netzwerk mit mehr als einer Milliarde Nutzern einigermaßen unbeschadet überstanden hat, ohne völlig auseinanderzufliegen, ist schon eine Leistung. Was für ein Wahnsinn ist da ein Plädoyer, ICANN binnen zwei Monaten in „eine supranationale unabhängige Instanz“ zu verwandeln und mit „weitreichenden Befugnissen und Mitteln“ auszustatten, ohne auch nur einmal über Legitimation und Kontrolle zu reden, von den genauen Aufgaben ganz zu schweigen. Über Internet Governance nachdenken: gern! Aber dann bitte gründlich.