Am Abend vorgelesen

Wir nennen es Arbeit, Hamburg.

Heute, wenn die Postfiliale aufmacht, kann ich die blaue Pappe aus dem Briefkasten endlich gegen ein Exemplar von Wir nennen es Arbeit tauschen, gestern waren Holm Friebe und Sascha Lobo aber schon in Hamburg zu einer Lesung. Anfangs war ein Teil des Publikums der Ansicht, dass wirklich alles, was die beiden Autoren sagen, komisch gemeint sein müsse und würdigten das entsprechend — im Zuge des Theorieteils (Balzac! Bourdieu! Brecht!) legte sich das.

Subliminaler Kaufbefehl Worum es in dem Buch geht, können die Autoren per Rückgriff auf Jens Bisky oder per Bewegtbild selbst erklären. Die Nachfragen drehten sich unter anderem darum, ob das denn nicht unpolitisch sei oder nur ums Geld ginge (Friebe/Lobo: nein). Viel spannender: Was das denn nun bedeute für den Staat und welche Forderungen die digitale Bohème an die Politik stellen soll. Unglaublich wohltuend, dass die Autoren ihre gute Idee nicht zu Tode extrapolieren, sondern im Gegenteil die Begrenztheit dieses Ansatzes feststellen und profan-politisch über Lösungen wie das Bürgergeld reden. Ohne dabei die Euphorie aufzugeben: Da hat sich etwas qualitativ verändert im Netz, ob die Worthülse Web 2.0 verwendet wird oder nicht. Also, wie andernorts gefordert: Kaufen, verschenken, ausmalen, über eigene Lebensvorstellungen nachdenken. Und ich fahre derweil zur Post und hole das Buch ab.

Alle meine Bücher (2)

LibraryThing auf Deutsch.

Im November 2005 habe ich LibraryThing.com folgendermaßen vorgestellt:

Zum Bücherregal gehen: sieben Sekunden.
DeLillos „Americana“ finden: zwei Sekunden.
Zurück zum Computer: sieben Sekunden.
„Add book“ anklicken, Buch umdrehen, ISBN 0140119485 eingeben: vier Sekunden.
„Americana“ anklicken: eine halbe Sekunde.
Das ist wirklich verlockend einfach.

Tim Spalding hat mir gerade gemailt, dass LibraryThing.de gestartet ist, die deutsche Version. Also: Buch nehmen, „Bücher hinzufügen“, 349919337X eintippen, Buch anklicken.

Ich überlege ernsthaft, mir einen günstigen Barcode-Handscanner zuzulegen, nur für diese Website. Mittlerweile enthält sie übrigens nicht mehr 900.000, sondern 6,4 Millionen katalogisierte Bücher. Die Bücher können rezensiert, bewertet und verschlagwortet werden, die eigene Sammlung ist exportierbar, 200 Bücher sind frei, es gibt RSS-Feeds.

Fabelhaft ist auch, wie LibraryThing übersetzt worden ist — nämlich wikiesk: Jeder kann Übersetzungsvorschläge liefern, und jeder kann die Übersetzungsvorschläge der anderen per Mausklick loben oder kritisieren.

Bleak House 2005

Eine exzellente Dickens-Verfilmung.

Vom ersten Satz an, wo Nebel und Dämmerung und die übliche unmenschliche Staats=Justiz=Maschinerie mit einander identifiziert werden, steht kein Wort, keine Episode mehr umsonst : nie sind Zufall — oder, wenn Sie so wollen, Notwendigkeit ! — als so eisernes Netz über Menschen und Dinge gespannt worden. Scheinbar belanglose — nicht „Taten“, sondern Handgriffe ! — führen maschinenhaft, 500 Seiten später Verbrechen & Tod herbei, Glück oder Unglück Unbekannter, Nie=Gesehener, Nie=Bedachter. Um die 57 Hauptpersonen kreist unermüdlich der Planetoidenring der Nebengestalten, immer zunehmend an Zahl und Bedeutsamkeit.
[aus Arno Schmidts Funk-Essay über Charles Dickens — „Tom all alone’s / Bericht vom Nicht-Mörder“]

Ein 700-seitiger Dickens-Roman zerschreddert zu einer Soap mit 30-minütigen Folgen? Das geht, oh ja, sogar sehr gut. Schließlich hat ihn Charles Dickens in 19 Fortsetzungsheftchen herausgebracht und seine Leserschaft mit Cliffhangers zum Weiterlesen genötigt. Zwei Sätze zur Einführung: „Bleak House“ ist die Geschichte des ewig währenden Erbschaftsstreits Jarndyce v Jarndyce, der die Juristen gut ernährt und den potenziellen Erben nur Unheil bringt. Während der Prozess im Hintergrund auf der Stelle tritt, kommen einige der Beteiligten Geheimnissen auf die Spur, in die sie alle verwoben sind: die junge Waise Esther, der Gerichtsschreiber mit Pseudonym Nemo, Lady Dedlock, der düstere Anwalt von Sir Leicester Dedlock, der Straßenfeger Jo und viele andere.

Die Neuverfilmung von 2005 (BBC/WBGH) richtet sich mit ihrem bisweilen halsbrecherischen Tempo auch an die Zuschauer, für die ein Gerichtsprozess aus dem 19. Jahrhundert sonst eine schriftliche Einladung zum Wegzappen ist. Recht so — weg mit minutenlangen Kutschfahrten durch düstere Landschaften und Selbstgesprächen aus dem Off. Ja, die Kostüme und Kulissen waren bestimmt aufwändig und teuer, aber das Auge der Kamera gehört auf die Menschen gerichtet in diesem Drama um Liebe, Mord und viel Geld, um den Ruf einer Adelsfamilie, die Suche nach den eigenen Wurzeln und die krassen sozialen Missstände im England des 19. Jahrhunderts. Dank der exzellent umgesetzten Romanvorlage und Schauspielern in Hochform wird daraus eben keine Soap zum Mitschämen, sondern ein strahlender Beleg dafür, wie gut Fernsehen sein kann. Belohnt wurde dies erfreulicherweise nicht nur mit Lob der britischen Fernsehkritik, sondern auch mit vielen und begeisterten Zuschauern.

(Wer nicht warten mag, bekommt natürlich übers Netz auch in Deutschland die DVD mit einer einstündigen und 14 halbstündigen Folgen.)

Nachtrag: Giesbert Damaschke ist ebenfalls begeistert.

Alle meine Bücher

Tim Spaldings LibraryThing.

Zum Bücherregal gehen: sieben Sekunden.
DeLillos „Americana“ finden: zwei Sekunden.
Zurück zum Computer: sieben Sekunden.
„Add book“ anklicken, Buch umdrehen, ISBN 0140119485 eingeben: vier Sekunden.
„Americana“ anklicken: eine halbe Sekunde.
Das ist wirklich verlockend einfach.

Mehr als 900.000 Bücher sind bei LibraryThing bereits eingegeben, wahlweise öffentlich oder vor neugierigen Regallesern geschützt. Die Bücher können rezensiert, bewertet und verschlagwortet werden, die eigene Sammlung ist exportierbar, 200 Bücher sind frei, es gibt RSS-Feeds.

Zum Anschauen: Die bloggende Stadtbücherei Nordenham gibt ihre Neuzugänge bei LibraryThing ein.

Vorfreude auf 2006

Ausstellung über Arno Schmidt in Marbach.

Arno-Schmidt-Lesezeichen 71672 Marbach am Neckar — Gasturbinenkraftwerk, Anschluss an die Stuttgarter S-Bahn und vor allem Sitz des Deutschen Literaturarchivs. Am 30. März beginnt dort die fünfmonatige Ausstellung Arno Schmidt? – Allerdings! Die Broschüre, die mir heute in die Finger gekommen ist, verspricht „unvertrauten Besuchern“ eine Einführung in die Welt des Autors, Kennern Unerwartetes und Überraschendes.