Team Nostalgie

Island wählt wie vor dem Crash.

Island hat am Sonnabend ein neues Parlament gewählt, und der Reykjavik Grapevine, ein englischsprachiges Magazin in Island, hat eine einfache Erklärung für Nicht-Isländer. Es traten an:

  • „Team Regierung“: Sozialdemokraten und Links-Grüne; bislang Koalitionspartner
  • „Team Nostalgie“: Unabhängigkeitspartei und Fortschrittspartei; liberal-konservative Parteien, die 1995 bis 2007 koaliert haben
  • „Team Upstart“: Piratenpartei und Björt framtíð (Helle Zukunft), zwei Parteineugründungen

Gewonnen hat: Team Nostalgie. Die Unabhängigkeitspartei, die Island in die Finanzkrise geführt hat, ist nun wieder stärkste Partei geworden. (Nach einem Auszählungsmarathon haben es die Piraten mit 5,1 Prozent gerade so über die Fünfprozenthürde geschafft: Ergebnisse auf Morgunblaðiðs mbl.is)

Die angebliche Crowdsourcing-Verfassung, Lieblingsthema mancher deutscher Medien (Print und Social), ist ja kurz vor Ende der Legislaturperiode im Parlament gescheitert. Wer erwartet hatte, dass die Isländer das bei der Wahl bestrafen, hat sich geirrt: Die Wirtschaftslage, der Umgang mit der Pleitebank Icesave, der EU-Beitritt  und die Folgen für den Fischfang  scheinen den Isländern wichtiger gewesen zu sein. Im News-of-Iceland-Blog erläutert Steinar Björnsson das ausführlicher.

Reuters beschreibt die Lage vieler Haushalte auf der Insel: Die Immobilienpreise sind drastisch gefallen, die Reallöhne gesunken, viele verschulden sich immer mehr. Kein Wunder, dass die Fortschrittspartei den Wählern „pretty much everything but balloons and ice cream for all“  (Zitat Grapevine) versprochen hat.

Ist Island also doch kein Vorbild für ganz Europa? Der Schriftsteller Hallgrímur Helgason hat schon kurz vor der Wahl ein ernüchterndes Fazit gezogen: „People want to forget the Crash, they don’t want to learn from it, they don’t want to start behaving sensibly, they don’t want to start behaving — as we had hoped — like responsible Scandinavians.“

Kalte Füße

Der Blogger, das Gold und die Startbahn.

Eine Vorwarnung: Das hier ist eine Geschichte über Island, es wird also ziemlich kalt. Außerdem enthält sie ein Rätsel, das auch am Ende noch nicht gelöst ist. Zum Trost lernen wir dafür ein paar Brocken Isländisch.

Kiste mit isländischer Flagge und goldenen Spuren

Es geht abermals um die Geschichte des Redakteurs, der sich im Spiegel beklagt, dass sein Sohn keine Zeitung mehr liest. Ralf Hoppe führt gegen das Internet an, die Isländer hätten die Finanzkrise ihres Landes deshalb nicht verstanden, weil es dort keine guten Journalisten mehr gegeben habe, sondern „Blogs und Volksreporter“. Das belegt er anschaulich:

„Gerüchte flammten auf, die Regierung würde zum Beispiel die Goldschätze aus der Zentralbank ins Ausland bringen, alle Isländer müssten am nächsten Morgen auf dem Flughafen stehen und die Startbahn blockieren, dieser Aufruf machte die Runde. Es war eisiger Winter. Und die Regierung hatte nicht im Traum daran gedacht, irgendwelche Goldschätze in Milliardenhöhe ins Ausland zu bringen. Aber die Isländer machten sich in der Nacht auf, blockierten ebenso tapfer wie sinnlos anderthalb Tage die Startbahn, bis alle steifgefroren waren. Der Erfinder dieses Gerüchts, der Blogger, wer immer es war, hat eine Menge kalter Füße und Blasenentzündungen zu verantworten.“

Wir sehen die Szene vor Augen: Hunderte, wenn nicht Tausende Isländer, die stundenlang in dicken Isländerpullovern auf einer verschneiten Rollbahn stehen. Womöglich wären sie längst nach Hause gegangen, wenn da nicht immer neue Fotografen und Kameraleute gekommen wären. Und „der Blogger, wer immer es war“, sitzt gemütlich im Wohnzimmer am Computer und trinkt heißen Tee. (Tee heißt übrigens te auf Isländisch. Isländisch ist nicht immer schwierig.)

Ein absurder Vorfall, zu dem es mit Sicherheit jede Menge Berichte gegeben hat. Oder: haben müsste. Aber ein paar erste Suchversuche mit Kombinationen von Island, Flughafen, Blockade, Zentralbank, Gold, Startbahn führen ins Nichts. Wer es auf Englisch probiert, wird leider auch nicht schlauer.

Dank Internet ist der Weg zu einem Isländisch-Wörterbuch ja kurz: Das isländische Wort für Landebahn ist flugbraut. Die Zentralbank heißt seðlabanka, mit einem drolligen ð, und der internationale Flughafen Keflavik nennt sich Keflavíkurflugvöllur. Aber auch wenn wir so wunderschöne Wörter in die leitarvél, pardon: Suchmaschine eingeben, bleibt die Startbahn-Story unentdeckt.

Es hilft nichts: Fragen wir Isländer. Und mit „wir“ ist auch Bastian Brinkmann gemeint, Wirtschaftsredakteur bei Süddeutsche.de. Da ihn ebenfalls das Rollbahngoldfieber gepackt hat, fragt er Baldur Hedinsson, einen Mathematiker, der bei der renommierten NPR-Sendung „Planet Money“ ein Praktikum gemacht hat. Hedinsson, der Island-Erklärer für NPR, sagt, dass er von der Geschichte noch nie etwas gehört hat: „I’d be amazed if it ever happened.“ Er hat auch noch mal herumgefragt, ebenso erfolglos.

Guðjón Már Guðjónsson hat 2010 das Isländische Nationalforum nach der großen Krise mitorganisiert. Die Flughafenbesetzung? „I have never heard this story before“. Er fragt bei seinen Facebook-Freunden nach und erntet dafür 28 Likes und neun Smileys. (Einer schlägt vor, mir gephotoshoppte Bilder von eingefrorenen Demonstranten zu schicken. Das stößt auf Zuspruch.)

Wir können auch Isavia fragen, das ist die Gesellschaft, die Islands Flughäfen betreibt. Dort ziert man sich nicht, auf die merkwürdige Anfrage zu reagieren: Das sei eine großartige Geschichte, schreibt mir der Isavia-Sprecher sofort zurück, bedauerlicherweise ohne ein Fünkchen Wahrheit, aber dennoch großartig.

Aber was nützt schon das Dementi von 30 Isländern, wenn es mehr als 300.000 von ihnen gibt? Vielleicht war es ja ein besonders kleiner und abgelegener Flughafen, bei dem ein Dutzend willensstarke Leute genügen zum Blockieren; vielleicht hat die Presse nie davon Wind bekommen. Aber so klingt die oben zitiere Textpassage eigentlich nicht. (Ein Rätsel heißt übrigens ráðgáta auf Isländisch.)

Der Spiegel-Autor hat die Anekdote gewählt, um zu zeigen, wie „eine vernetzte, bloggende Gesellschaft“ wie Island endet, wenn die althergebrachten Medien schwächeln.

„Darauf lief es hinaus: kalte Füße, und das Fehlen der vierten Gewalt. Eine neue Ungenauigkeit. Ich hoffe, man wird sich daran nicht gewöhnen müssen.“

Wie schon am Anfang angekündigt, bleibt das Rätsel um den Blogger, das Gold und die Startbahn am Ende ein Rätsel. Ich fürchte, bei mir hat das Plädoyer für die „knisternden“ Medien, um die es dem Autoren ja geht, eher für mehr Skepsis gesorgt. Aber das ist ja das Wunderschöne am Internet: Jeder, der mag, kann ja selbst weitersuchen und Isländer fragen. Wenn jemand fündig wird, bekommt die Geschichte ein neues Ende.

(Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass ich kurz im Mailkontakt mit dem Autoren stand, aber daraus nichts veröffentliche. Wir sind hier ja nicht bei den Piraten.)

Nachtrag: Im Spiegelblog äußert sich jetzt der Autor Ralf Hoppe zur Kritik.

(Ein paar andere haben darauf schon reagiert: Detlef Gürtler schreibt von einer Fast-Entschuldigung und hat nicht den Eindruck, die deutschen Medien hätten die Finanzkrise verlässlicher und vertrauenswürdiger begleitet als die isländischen. Dirk von Gehlen sieht die Angelenheit als Indiz dafür, wie das Netz den Journalismus und den Journalistenberuf verändert. Felix Schwenzel findet Hoppes Antwort trotzig und selbstmitleidig und liest in ihr, wie sich der gefühlte Bedeutungsverlust einer einst allmächtigen Redaktion wiederspiegelt.)

Die Geschichte auf Island hat jetzt also doch ein Ende bekommen. Der Nachsatz mit dem Mailkontakt, der offenbar bei manchen wilde Spekulationen ausgelöst hat, kann weg, jetzt, wo sich der Autor selbst zu Wort meldet. Die Demonstranten habe er selbst Anfang 2009 in Reykjavík gesehen, schreibt er; sie seien da gewesen, um die Startbahn zu blockieren, hätten aber ihr Vorhaben nicht umgesetzt. Dass einige Demonstranten vor dem Flughafengebäude keine tiefen Spuren hinterlassen haben, verwundert nicht. Wie daraus eine anderthalb Tage lange Blockade geworden ist, ist mir weiterhin nicht ganz klar. Hoppe verweist auf seinen (im Spiegelblog nicht verlinkten) Artikel Das Crash-Labor von 2009. Dort spielen Flugzeuge und Gerüchte auch eine Rolle, aber es geht nicht ums Gold der Zentralbank, sondern um Privatleute und Koffer voller Bargeld. Aber wer will schon Gerüchte nachrecherchieren? Und wenn der Autor selbst der Augenzeuge ist, kann auch die renommierte Spiegel-Dokumentation ein Geschehnis weder be- noch widerlegen. Insofern ist es an der Zeit, das Island-Kapitel zuzuklappen.

Beispiel Island?

Crowdsourcing-Mythen um eine neue Verfassung.

In einer Pressemitteilung hat die Piratenpartei gerade Island zum Vorbild erklärt: Die Isländer stünden (am gestrigen Sonnabend, dem 20.10.2012) vor der Entscheidung, „ob ihre künftige Verfassung auf Vorschlägen basieren soll, die basisdemokratisch entstanden sind“. Johannes Ponader, der politische Geschäftsführer spricht von einem politischen Traum: „Die Isländer beweisen der Welt, dass Basisdemokratie funktioniert.“ Der Verfassungsentwurf sei „unter Einbeziehung der Bevölkerung und Verwendung von Crowdsourcing“ entstanden.

Die Kurzfassung: Bei näherer Betrachtung bleibt davon nicht mehr ganz so viel übrig. Aber wir haben hier ja auch Platz für ein bisschen mehr Erklärung.

Das isländische Referendum vom Sonnabend war nicht bindend, und abgestimmt wurde auch nicht über den finalen Verfassungstext. Die erste der sechs Fragen auf dem Stimmzettel lautete, ob die Vorschläge des Verfassungsrats die Grundlage für einen neuen Verfassungsentwurf bilden sollen. Laut vorläufigen Meldungen haben sich etwa 50 Prozent der Abstimmungsberechtigten beteiligt, davon haben rund 66 Prozent dafür gestimmt, den Vorschlag als Grundlage zu nehmen.

Jetzt ist erst einmal das isländische Parlament, das Althing, am Zuge.

Ist denn der Text durch Crowdsourcing entstanden? Vorgelegt haben ihn fünfzehn Männer und zehn Frauen, die im November 2010 vom Volk gewählt wurden. Die Wahlbeteiligung war dabei mit knapp 36 Prozent die geringste von allen landesweiten Wahlen seit Islands Unabhängigkeit 1944. Anfang 2011 wurde die Wahl für ungültig erklärt. Daraufhin hat das Althing aus der Verfassungsversammlung einen Verfassungsrat gemacht und die Wahlgewinner zu den Mitgliedern des Rats ernannt.

Sitzung des isländischen Verfassungsrats
Foto CC-by Stjórnlagaráð

Auf der Website des Verfassungsrats konnten Benutzer öffentliche Kommentare schreiben (etwas über 300 sind eingetroffen). Unter einzelnen von ihnen gibt es einen oder mehrere Facebook-Kommentare, darunter auch einige von Mitgliedern des Verfassungsrats. Auf der Facebook-Seite des Verfassungsrats selbst gibt es nur wenige Kommentare.

Die 19 Plenarsitzungen des Rats waren öffentlich, von den (bis zu 48) Sitzungen der drei Ausschüsse gibt es zumindest Protokollnotizen, von den Arbeitsgruppen gibt es sie nicht. In Sachen Transparenz sind die Unterschiede zu deutschen Parlamenten also nicht ganz so gewaltig.

Innovativer war dagegen eine andere Versammlung: das Nationalforum von 2010, das aus einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung entstand. 950 Isländerinnen und Isländer, deren Namen aus dem Einwohnerregister gezogen wurden, trafen sich dazu ein Wochenende lang in einer Sporthalle in Reykjavik und setzten sich grüppchenweise mit einem neutralen Moderator an einen Tisch.

Islands Nationalforum 2010
Foto CC-by-sa Stjórnlagaþing

Die Ergebnisse des Nationalforums lesen sich allerdings weniger spannend als das Konzept: Unter dem Eindruck der Banken- und Staatskrise forderten die Teilnehmer moralischeres Verhalten, mehr Ehrlichkeit und mehr Gleichheit. Es wird allerdings auch einigen Stellen etwas konkreter – begrenzte Amtszeiten für Abgeordnete, Referenden in wichtigen Fragen, zudem wird die Veto-Macht des isländischen Präsidenten infragegestellt.

Was ist vom Wochenende in der Sporthalle geblieben? Die Amtszeitbegrenzung findet sich im aktuellen Verfassungs-Vorschlag nicht wieder und der Präsident hat sein Veto behalten, dafür gibt es mehr Möglichkeiten für Referenden.

Jetzt beschäftigt sich also Islands Parlament mit der neuen Verfassung. Der Entwurf des Verfassungsrats sieht auf den flüchtigen Blick eines Nicht-Isländers aus wie eine moderne europäische Verfassung, Informations- und Pressefreiheit werden gestärkt, die Menschenrechte rücken an den Anfang der Verfassung. Auch die Isländer, die sich dafür interessieren, scheinen mit dem Vorschlag ja überwiegend zufrieden zu sein.

Ein „Beweis, dass Basisdemokratie funktioniert“ ist dieser isländische Verfassungsgebungsprozess allerdings nicht. Zum ersten ist das Interesse in der Bevölkerung nicht sonderlich groß, zum zweiten haben die repräsentativ ausgewählten Bürger im Nationalforum 2010 nur sehr vage Leitlinien aufgestellt, zum dritten war die Bevölkerung auch beim Verfassungsrat nicht besonders stark beteiligt.

Und schließlich darf man eben auch nicht vergessen, wie groß oder eben klein Island ist: Der Mediziner und Filmemacher Lýður Árnason war für 347 Isländer die erste Wahl, und das hat auch gerade noch für einen Platz im Verfassungsrat gereicht. In Reykjavik leben 100.000 Menschen, außerhalb davon noch einmal 200.000. Da hat Bielefeld mehr Einwohner als das ganze Land.