Zu viel

Ein Blick auf die Warlogs aus dem Irak.

Wenn ich die Irak-Warlogs-Daten nehme, die der Guardian als Google Fusion Table aufbereitet hat, sind die Daten bereits gefiltert — die Tabelle enthält nur die Warlogs, in denen ein Tod vermeldet wird.

Und selbst wenn ich dies weiter beschränke auf Explosionen von Sprengfallen („IED explosions“) und dann noch einmal eingrenze auf diejenigen mit mindestens 20 Todesopfern und schließlich nur die Umgebung auf Bagdad zeige, sieht die Karte am Ende so aus:

So sieht das Ganze als Zeitleiste aus (IED-Explosionen mit mindestens 20 Todesopfern):

Anders gesagt: Es ist zu viel. Auf der Guardian-Karte befinden sich zehntausende Punkte, die für einen oder mehrere Toten stehen. Das ist höchstens noch beeindruckend, aber jenseits jeder Erfassbarkeit.

Auch bei der Anonymisierung, um die so viel gestritten wurde, zeigt sich, dass es schlicht zu viel ist. Wikileaks hat selbst den radikalsten Ansatz gewählt und so viele Wörter durch Unterstriche ersetzt, dass aus mancher Meldung ein rätselhafter Lückentext geworden ist („THREAT TO ___ BY /___ SE OF HIT“).

Guardian und Spiegel bieten große Teile der Datenbank selbst im Netz an und verraten mitunter mehr als Wikileaks.

Ein Beispiel aus dem Wikileaks Diary Dig: „At 020930COCT06, a ___ IA who worked for Military Intelligence was murdered. The E ___ is ___ and was born is ___. He was shot by three 9mm rounds to the ___ and neck“.

Die Spiegel-Flashgrafik und die Guardian-Karte zeigen dagegen den vollen Namen (blaue Balken von mir), weil er im Titelfeld steht – das scheint aber eher eine Ausnahme zu sein. Wikileaks zeigt nicht nur das Titelfeld, sondern den gesamten Eintrag, verstümmelt ihn dabei aber so sehr, dass sich der Inhalt manchmal kaum rekonstruieren lässt.

Spiegel-Auszug aus US-Bericht zum Irakkrieg
(Der Spiegel)

Guardian-Karte zum Irakkrieg
(The Guardian)

Ein weiteres Beispiel, diesmal mit Links: Bei Wikileaks lautet die Meldung kryptisch „ASSASSINATION OF __“. Baut man die Ziffern- und Zahlenkombination (ReportKey) und das Datum korrekt in die URL der Spiegel-Flashgrafik ein (#id=D79BD9C5-2BA3-4B5F-A2BA-10E779EACED1&date=9.3.2005), erfährt man, dass eine Übersetzerin umgebracht wurde. Womöglich ist es Nawal Mohammed, die in einem AP-Bericht von 2005 bereits namentlich erwähnt wurde.

Das führt auch schon zum letzten Punkt, den Sozialpsychologen Scope-Severity Paradox nennen. Das Experiment: Ein fiktiver Finanzbetrüger hat drei Leute um ihr Geld gebracht — wie lange soll er dafür ins Gefängnis? Die Befragten schicken ihn im Mittel für 6,4 Jahre hinter Gitter. Wenn er zehn Mal mehr Leute um ihr Geld gebracht hat, sind es dagegen nur 5,5 Jahre. Das ist leider nicht nur in der Welt der Psychologie-Experimente so, sondern auch bei realen Schadenersatzprozessen. Wired bringt es auf den Punkt: „The More Victims, the Less Severe the Judgment“.

Wenn Menschen schon mit 30 Betrugsopfern überfordert sind, welche Bedeutung hat dann die Zahl 109.032 (Todesopfer im Irak)? Welche Bedeutung hat es, dass die Zahl der zivilen Opfer um 15.000 höher liegt als vorher gedacht? Vielleicht sind es ja eher gut gewählte Auszüge (wie A day in the life of the war beim Guardian), die bei einem Leser einen bleibenderen Eindruck hinterlassen.

Nachtrag: Weitere schöne Beispiele dafür, wie radikal Wikileaks die Warlogs säubert — zu den nicht angezeigten Wörtern gehören auch MICROSOFT und… IRAQ.

Mehr zum Thema:

Frei nach 158 Tagen

Florence Aubenas und Hussein Hannoun sind frei.

Presseschnipsel zur Freilassung von Florence Aubenas und Hussein Hanoun

Nach 158 Tagen Gefangenschaft im Irak sind die Journalistin Florence Aubenas und ihr Dolmetscher Hussein Hannoun freigekommen. Aubenas ist auf dem Weg nach Frankreich.Vor 58 Tagen hatten die französischen Medien mit einer Kampagne dafür gesorgt, dass die beiden nicht in Vergessenheit geraten.

Robust interviewen

Über die BBC-Fragesteller Humphrys und Paxman.

Fabian Mohr hat in seinem Weblog auf eine Radio-Sternstunde hingewiesen: Am 25. April 2005 wurde der britische Außenminister Jack Straw von BBC Radio 4 nicht interviewt, sondern regelrecht verhört. Kern der Auseinandersetzung: Warum befürwortete der oberste Rechtsberater der Krone, Lord Goldsmith, am 7. März 2003 eine zweite UN-Resolution, um eine Invasion im Irak explizit zu erlauben, und erklärte zehn Tage später eine Invasion auch ohne zweite Resolution für zweifelsfrei völkerrechtskonform? (Details in den FAQ dazu bei BBC News.) Straw wird in dem Interview — als RealAudio online — wieder und wieder auf diesen Punkt gebracht, und der Reporter lässt sich nicht abschütteln. Fabian Mohr: „eine viertelstunde, die sich jeder journalist gönnen sollte“.

Der Fragesteller, John Humphrys, und sein Stil sind keineswegs unumstritten. Humphrys‘ TV-Kollege Jeremy Paxman pflegt einen ähnlich angriffslustigen Stil, und auch von ihm gibt es ein sehr unterhaltsames Interview, in dem er Ex-Innenminister Michael Howard die selbe Frage zwölf Mal stellt. Das kommt nicht bei allen Zuschauern an, wirkt bisweilen arrogant, egomanisch und schlecht erzogen. Anlässlich der Unterhauswahlen schreibt der Chef der BBC-Fernsehnachrichten, Roger Mosey, über das angebliche „Paxman and Humphrys problem“, und verteidigt die beiden dabei natürlich: Paxman und Humphrys sind Galionsfiguren für Newsnight (TV) und Today (Radio), und beide Sendungen sind wiederum Aushängeschilder der BBC.

Mosey merkt mit Recht an, dass es nicht der einzige Interview-Stil bei der BBC ist, und die Zuschauer und Zuhörer natürlich eine Wahl haben. Zudem braucht ein solcher Fragestil auch würdige Kontrahenten: „It’s a huge tribute to British politicians that they take part in robust interview programmes on television and radio, and many of them over the years have said they respond better to ‚fast bowling‘ than to patsy questions.“ In einem Video-Interview sagt John Humphrys: „The danger is not that persistent and robust interviewing can damage the political process, the danger is precisely the opposite. The danger is that if you stop doing it, politicians get away with things that they shouldn’t get away with.“ Das geht natürlich nur, wenn ein Fragesteller nicht vor einem wichtigen Interview ein Grundlagen-Briefing braucht und die Fragen von Karten ablesen muss.

Salam Pax, Ministersohn

Ein Interview mit dem irakischen Blogger in der FAS.

Als Salam Pax, der Blogger aus Baghdad, zuerst auftauchte, mutmaßten einige, er gehöre zu Saddams Propagandaapparat. Nun ist sein Vater Minister ohne Geschäftsbereich in der irakischen Übergangsregierung, sagt Pax im Interview mit Anna von Münchhausen in der heutigen FAS.

Die hellblauen Streifen

Die neu gestaltete irakische Flagge stößt auf wenig Begeisterung.

Irakische Übergangsflagge (nach Agenturfotos) Die Gestaltung von Nationalflaggen ist vermutlich die höchste Herausforderung des politischen Designs. Selbst auf die Farbnuancen kommt es an, wie das Beispiel Irak zeigt. In Mosul haben laut AP hunderte Studenten gegen die neue irakische Übergangsflagge demonstriert. Angeblich erinnert das Hellblau der Streifen viele Iraker an die israelische Flagge. Inzwischen hat ein Sprecher des Regierungsrats den Abdruck des Blautons in den Zeitungen als ungenau bezeichnet. In dem Entwurf von Rifat al-Chaderchi sollen die blauen Linien zugleich Euphrat und Tigris sowie sunnitische und schiitische Muslime symbolisieren, die gelbe Linie steht für die Kurden. Die Reaktionen auf die neue Flagge sind laut BBC nicht gerade enthusiastisch.
Irakische Übergangsflagge (PDF-Download)