Akten für alle

Crowdsourced Journalism beim Guardian.

Wer sehen will, wie eine großartige Zeitung ihre Leser einspannen kann, um riesige Datenmengen zu durchforsten, findet beim Guardian ein grandioses Beispiel. Die Spesenabrechnungen der britischen Parlamentarier, die seit Wochen für Schlagzeilen sorgen, sind von der Parlamentsverwaltung eingescannt und veröffentlicht worden. Insgesamt sind es rund 700.000 Dokumente. Der Guardian hat eine Website, mit der dem Nutzer ein zufällig ausgewähltes Dokument angezeigt wird, das er bewerten soll: Handelt es sich um ein Spesenformular oder eine Rechnung? Ist das Dokument spannend, unwichtig oder bereits bekannt? Die Nutzer sollen sogar die Daten von der Rechnung in ein Textfeld eintippen. Wer mag, kann sich statt eines zufällig ausgewählten Abgeordneten auch direkt seinen eigenen Parlamentarier vorknöpfen.

guardianmps

Warum machen Nutzer das? Weil es bei wenigen Dokumenten wenig Mühe macht, weil Detektivarbeit Spaß macht und weil der Nutzer sich womöglich an der Aufdeckung eines Skandals beteiligt. Warum macht die Zeitung das? Weil es die eigene Arbeit durch Vorsortierung erleichtert, weil es die Leser begeistert und weil es die Zugriffe auf das Onlineangebot steigert. Ein Gewinn für beide Seiten.

Nachtrag: Wie die Anwendung entstanden ist und was bislang entdeckt wurde.

Nachtrag: Im Vorfeld hatte nur der Telegraph die Spesen-Akten zugespielt bekommen und daraus Tag für Tag ein Titelthema gewonnen. Milo Yiannopoulos schrieb am 2. Juni: „I’d like to see a ‚messy‘ collective of Kool-Aid slurping Wikipedians conduct the sort of rigorous analysis necessary for the Telegraph’s recent MPs‘ expenses investigation. Can you imagine social media achieving anything like it? Of course you can’t: great journalism takes discipline and training (…)“ Mittlerweile haben beim Guardian übrigens 20.000 Nutzer 160.000 Seiten untersucht.

Überplant

Vorbereitungen für das Ableben von Queen Mum.

Als die Mutter von Königin Elisabeth II. vor knapp sieben Jahren im Alter von 101 Jahren starb, war die BBC vorbereitet. Sehr gründlich vorbereitet: Über Jahrzehnte hatte die BBC die Berichterstattung geplant, zweimal im Jahr gab es Probedurchläufe. Die Planungen gerieten nach und nach bizarr detailliert, berichtete Chris Cramer, der nach 20 Jahren bei der BBC damals CNN International leitete:

„When I was at the BBC, there was a cupboard, and there were black dresses and there were black ties. There was a glass cabinet, because we were paranoid that people would lose the key to the cupboard. So in fact, there was a little hammer, and you used the hammer […] to actually get the ties and the dresses and the scripts out.“

Bei den Onlinern vom Guardian bestand der erste Schritt im Queen-Mum-ist-tot-Plan dagegen im Entfernen eines Inhalts, wie Onlinechefin Emily Bell gerade verraten hat:

„At the Guardian, in days gone by, we had a rather splendid Dress the Queen Mother interactive on our website (decommissioning it was the first instruction to the duty editor who was on the shift when she passed away).“

Ökosystem City

Ein Ex-Broker berichtet.

Vorläufer der heutigen Londoner Wertpapierbörse sind zwei Kaffeehäuser, Jonathan’s und Garraway’s: Dorthin mussten die Aktienhändler ausweichen, weil sie sich an der Royal Exchange rüpelhaft benommen hatten. Das war 1698. Der lange Bericht Tricks of the traders eines anonymen Ex-Brokers im Guardian liest sich so, als wenn seither in Sachen Ethik nicht viel passiert ist.

Foto: (CC) Paul Downey

Favourite

Lob der Guardian-Familienbeilage.

Das Beste, was der Zeitungskiosk an einem Samstag verkauft, ist die Familienbeilage des Guardian. In der es um die Liebe zu einem Feuchtnasenaffen namens Congo geht, um die aufgedeckten Internetgeheimnisse von Jugendlichen, um eine fünfköpfige Familie, die in einem Doppeldeckerbus lebt, um die Symmetrie von 15 und 51, um Kinder gehörloser Eltern. Unter den Kolumnen hat „Living with teenagers“ das höchste Suchtpotenzial — zum Einlesen: die Protagonisten sind Becca, Jack und Eddie.

(In der Auslandsausgabe, die es an deutschen Kiosken gibt, steckt der Family-Teil gemeinsam mit der Review-Beilage im Reiseteil.)

Observiert

Relaunch-Effekte bei Guardian und Observer.

In der FAZ am Freitag stand am Ende einer Meldung über einen Chefwechsel bei der britischen Sonntagszeitung Observer Folgendes:

Der „Guardian“ hat seit der teuren Umstellung auf das Berliner Format an Auflage verloren. Der „Observer“ legte dagegen deutlich an Auflage zu.

Tatsächlich? Die Guardian-Auflage hat in den Monaten nach der Umstellung die 400.000er-Grenze überschritten, seither sind es zwischen 360.000 und 380.000 Exemplare (ABC-Zahlen). Im halben Jahr vor dem Relaunch lag die Auflage durchschnittlich bei 337.000 Exemplaren.

Der Observer hat erst im Januar auf das Berliner Format umgestellt und von dem Relaunch deutlich mehr profitiert: Die Auflage schnellte im Januar 2006 auf 542.000 Exemplare hoch. Mittlerweile sind es 430.000 bis 480.000. Wieder zum Vergleich: Im halben Jahr vor dem Relaunch waren es durchschnittlich 410.000 Exemplare.

Auflagen von Guardian und Observer von August 2005 bis September 2007

Anders gesagt: Direkt nach dem Relaunch haben beide Zeitungen deutlich zugelegt, dieses Plus ist mittlerweile wieder etwas abgeschmolzen, aber die Auflage ist höher als zuvor. Den Gegensatz, den die FAZ-Journalistin aufstellt, kann ich nicht ganz nachvollziehen.