Die Normalo-Leser

News of the World und Lesertypologien.

Mit der News of the World (good riddance!) ist ja nicht nur eine gedruckte Sonntagszeitung verschwunden, sondern auch eine Website. Die Marktforscher von Experian Hitwise haben sich angeschaut, wer denn eigentlich die Besucher von newsoftheworld.co.uk waren und zu welchem Konkurrenzangebot sie möglicherweise wechseln.

Hitwise-Netzdiagramm

Das Netzdiagramm unten im Hitwise-Blogeintrag ist nicht ganz einfach zu verstehen — es zeigt an, welche Gruppen über- und welche unterrepräsentiert sind. Ein Lesebeispiel: Ganz oben liegt die blaue Linie bei knapp unter 130 Prozent. Das bedeutet, die Gruppe namens „Alpha Territory“ ist bei den Onlinenutzern von dailymail.co.uk (blau) deutlich stärker vertreten als ihr Bevölkerungsanteil. Ist eine soziodemografische Gruppe weder über- noch unterrepräsentiert, liegt der Wert bei 100 Prozent.

„Alpha Territory“? In Deutschland sind die Sinus-Milieus einigermaßen bekannt, die Medienforscher arbeiten unter anderem mit der MedienNutzerTypologie. Um Leute solchen Typologien zuzuordnen, muss man etwas über sie persönlich erfahren, ihre Werte, Ziele, Interessen und Aktivitäten. Das kann man sich aber auch einfacher machen — und das tun beispielsweise Kreditkartenfirmen: mit Geodemographie. Ich weiß vielleicht nicht, wer da eine Kreditkarte haben will, aber ich weiß, wo er wohnt. Postleitzahl HP18 0SB ist vertrauenswürdig, Postleitzahl E9 6EA eher nicht.

Eine dieser Klassifikationen nennt sich ACORN, und die Typologien heißen so langweilig wie die deutschen — „well-off working families with mortgages“ zum Beispiel. Ein neueres Konkurrenzsystem heißt Mosaic und wurde vom selben Menschen entwickelt, die Schubladen haben aber originellere Namen (PDF-Broschüre). „Active Retirement: Bungalow Quietude“, „Careers and Kids: Soccer Dads and Mums“ oder „Claimant Cultures: Worn-Out Workers“ sind ziemlich anschaulich. Es gibt in der Gruppe „Liberal Opinions“ auch den Typ „Bright Young Things“. Wer möchte das nicht sein?

(Wer wissen will, warum es schrecklich sein kann, in „Happy Families: Families Making Good“ zu landen, kann einen langen Guardian-Artikel über Kreditkarten-Schulden lesen.)

Um endlich zur News of the World zurückzukommen: Experian setzt sein Mosaic-System auch ein, um Internetnutzer einzusortieren. Und wer sind sie nun, die Onlineleser der News of the World? Etwas überdurchschnittlich junge Familien („New Homemakers“), ein bisschen unterdurchschnittlich ländlich Abgeschiedene, ansonsten: fast durchgehend der Durchschnitt.

Dass die gedruckte News of the World kein bloßes Schundblatt der working class war, zeigen andere Studien. Zeitungsleser werden nämlich seit Jahrzehnten nach der sozialen Schicht des Hauptverdieners eingestuft, von A über B, C1, C2 und D bis E. Begehrt sind vor allem die ABC1-Leser, also die obere bis untere Mittelschicht: weniger begehrt ist C2DE. In der letzten Leserstudie (April 2010-März 2011) erreichte News of the World 2,9 Millionen ABC1-Leser, dazu noch einmal 4,5 Millionen C2DE-Leser. Die News of the World erreichte also jeden Sonntag mehr ABC1-Leser als Sunday Telegraph, Observer und Independent on Sunday zusammen, wie der Observer etwas deprimiert ausgerechnet hat.

police.uk

Vermisstensuche mit Social Media.

Das Avon and Somerset Constabulary, ein Polizeibezirk im Südwesten Englands, sucht eine vermisste Frau — suchte, muss man nach dem Fund einer Toten wohl leider sagen. Bemerkenswert ist, wie so eine Suche auf einer britischen Polizei-Website aussehen kann.

Zunächst einmal gibt es dafür eine Webadresse, die zwar immer noch zu lang ist, aber vielleicht gerade noch auf Fernsehbildschirme passt: http://avonandsomerset.police.uk/jo ist ein Redirect zur eigentlichen Seite. Dort gibt es (1) eine Karte mit den Orten, an denen sich die Vermisste zuletzt aufgehalten hat, (2) ein Video mit einem Appell der Eltern, (3) einen Kasten mit Twitter-Einträgen zum Stichwort #helpfindjo, (4) Meldungen und Fotos — die Bilder enthalten alle die URL der Website — sowie (5) Social-Bookmarking-Buttons. Dazu gibt es ein Online-Kontaktformular für Hinweise.

Screenshot von der Website der Polizei von Avon und Somerset
(Die Fotos auf dem Screenshot sind von mir unkenntlich gemacht.)

Ich weiß natürlich nicht, wie lange es seit dem Verschwinden der Frau am 17.12. gedauert hat, bis die Website so aussah. Aber zum Vergleich: So sieht Ende 2010 die Website der Polizei Niedersachsen aus, die fast viermal so groß ist wie das Avon and Somerset Constabulary.

Kleiner Test

Britische Fernsehprominenz.

Welche Person ist am längsten auf britischen Fernsehbildschirmen zu sehen gewesen?

(Auflösung hier oder hier.)

Leser als Mitglied

Guardian und Observer starten Extra.

Sechs Tage pro Woche den Guardian, sonntags den Observer, so ein Abonnement kostet in Großbritannien etwa 300 Pfund. Jetzt bieten die beiden Blätter etwas an, was sich für eine Zeitung ungewöhnlich anhört: Mitgliedschaft. Extra, das Mitgliedsprogramm von Guardian und Observer, hat wenig mit taz-Genossenschaft gemein. Auch wenn sich die taz mit Prämien bedankt (einem fair gehandelten Mango-Paket zum Beispiel), geht es mehr ums GenossIn-Sein als ums Genießen. Extra ist dagegen eine Mischung aus Coupon-Heft (Preisnachlass auf Luxusbettwäsche) und Backstage-Pass (exklusive Lesungen und Vorträge). Abonnenten bekommen ihre Mitgliedskarte automatisch, alle anderen zahlen 25 Pfund im Jahr für dieses Gefühl der Zeitung als Gemeinschaft.

Der KulturSpiegel als exklusive Beilage für Spiegel-Abonnenten (Nachtrag: seit 2008 nicht mehr exklusiv), das Zeit-Online-Premiumabo, Touren durch die SZ-Druckerei — da müsste hierzulande doch eigentlich mehr möglich sein? (Wenn es Menschen gibt, die 1.750 Dollar für ein Bon-Jovi-Konzert zahlen?)

Die hohe Live-Kunst

BBC-Bilder vom Machtwechsel.

Viele der BBC-Livebilder vom dann doch plötzlichen Regierungswechsel in der 10 Downing Street heute Abend hatten Kinoqualität — und das ohne monatelange Vorbereitung wie bei einer Amtseinführung in Washington. Ein Machtwechsel in 90 Minuten, zusammengefasst in knapp drei, zu überdramatischer Musik.

(Ja, ich bin noch da.)

BBC-Aufnahmen vom Regierungswechsel