Umetikettiert

Verfahrenstricks beim US-Schuldenstreit.

Ein West-Wing-Fan weiß natürlich, dass die Verfahrensregeln des US-Kongresses mitunter bizarr sein können:

— Donna: Sam needs more time.
— Josh: All right. Tell him to have a Democrat call for a journal vote. If a member calls for a journal vote, the full House has to approve the previous day’s floor activity.
— Donna: Okay.
— Josh: After that, he can have a member try to attach an amendment to the override vote.
— Donna: What kind of amendment?
— Josh: Doesn’t matter. „To qualify for the estate tax repeal, the estates have to have Astroturf.“
— Donna: And still it’s hard to figure why Congress can’t get anything done.

Das derzeitige Spiel mit dem Feuer um die Verschuldungsgrenze zeigt eine dieser Besonderheiten. Am Freitag hat das Repräsentantenhaus über seinen Gesetzentwurf abgestimmt – die Republikaner dafür, die Demokraten dagegen. Wer sich aber den Gesetzentwurf anschaut, wundert sich: Abgestimmt wurde über einen Gesetzentwurf des Senats, der eine Kommission vorsieht, die sich um das beschleunigte Beantworten von Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz kümmern soll („Faster FOIA Act“).

Was das mit dem Schuldenstreit zu tun hat? Nichts. Das Repräsentantenhaus hat einfach einen Gesetzentwurf genommen, den es vom Senat bekommen hat, und den kompletten Text durch einen anderen ersetzt. Alles was vom Gesetzentwurf geblieben ist, ist quasi der Umschlag mit der Aufschrift S. (für Senate) 627. Warum macht das Repräsentantenhaus das? Um Zeit zu sparen: So könnte das Gesetz nur drei statt fünf Tage im Senat benötigen. (Was es mit filibusters und cloture motions auf sich hat, erklärt USA Erklärt.)

Ein bisschen bizarrer wird es noch: Der Parteiführer der Demokraten im Senat, Harry Reid, hat dann beantragt, dem Schuldenplan der Republikaner zuzustimmen. Das musste er tun, damit der Senat anschließend über einen Antrag abstimmen konnte, sich mit diesem Antrag nicht mehr zu beschäftigen („Motion to table the Reid motion to agree to the House amendment to the bill“). Was die Senatoren dann auch prompt getan haben.

Oslo/Utøya

Der 22. Juli in Norwegen.

Das norwegische öffentliche-rechtliche Fernsehen NRK liefert seit gestern Nachmittag eine Glanzleistung: Ohne Unterbrechung berichten die Redakteure und Reporter in einer Sondersendung über den schwärzesten Tag in Norwegens Nachkriegsgeschichte. Wer die Breaking-News-Arien amerikanischer Sender kennt, muss NRK hohen Respekt für die Ruhe und Ernsthaftigkeit zollen, mit der das Fernsehen berichtet. (Derzeit ist der Livestream auch fürs internationale Publikum zu sehen.)

Ich habe schon auf Google+ meinen persönlichen Helden gelobt: Tore Bjørgo, Politikwissenschaftler an Norwegens Polizeihochschule mit Spezialgebiet Terrorismus. In den NRK-Hauptnachrichten um 19 Uhr sagte er, dass Terroristen ja versuchen, so viel Angst zu verbreiten, dass sich eine Gesellschaft selbst verletzt. „Wir sind es, die bestimmen sollten, in welchem Land wir leben.“ „Es liegt an uns, welche Konsequenzen das hat“.* Das sagte er wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, an dem noch niemand wusste, ob eine Einzelperson oder eine Gruppe hinter den Anschlägen steckt und die internationalen Medien überwiegend über einen islamistischen Hintergrund spekulierten.

Heute morgen ist das Fernsehen noch ruhiger. Auf die Idee, Katastrophen-Trailer zu produzieren oder die schlimmsten Bilder mit Musik zu unterlegen, ist NRK nicht gekommen. Ab und an wird gezeigt, wie der Rest der Welt reagiert, z.B. CNN:

CNN-Bildschirm: Norway Attacks mit norwegischer Flagge

Viele große Medien haben ihr Hauptquartier im Osloer Regierungsviertel. Die Mitarbeiter von TV2, VG, Aftenposten und der Nachrichtenagentur NTB mussten ihre Gebäude verlassen. VG hat dann das Webangebot und die meistgelesene Zeitung des Landes aus einem Osloer Hotel produziert, mit hastig gekauften Computern. Auch eine ziemliche logistische Meisterleistung.

Die Reaktion des offizielle Norwegen ist ein kleiner Trost. Ministerpräsident Stoltenberg erklärt mehr Demokratie, mehr Offenheit zur Antwort auf den Terror. Kein Versuch, mit erhöhten Terrorwarnstufen für Pseudo-Sicherheit zu sorgen. Es sieht zumindest am Tag danach so aus, als wenn sich die norwegische Gesellschaft nicht selbst verletzt.

*Nachtrag vom 29.7.: Die NRK-Abendnachrichten vom Anschlagstag sind jetzt online, dann kann ich die Äußerungen von Tore Bjørgo jetzt wörtlich aufschreiben. „Das Kennzeichen von Terroraktionen ist ja, dass Terroristen versuchen, Angst zu erzeugen und Reaktionen hervorzurufen, so dass sich die Gesellschaft selbst schadet. Und deshalb ist es sehr wichtig, dass nicht die Gesellschaft auf so eine Weise reagiert, wie die Terroristen es wünschen, und das ist eine große Aufgabe sowohl für die Politiker als auch für die Zivilgesellschaft, dass man Ruhe und Besonnenheit bewahrt und nicht die Terroristen bestimmen lässt, was für eine Gesellschaft wir haben sollen. Wir sind es, die bestimmen sollen, was für eine Gesellschaft wir haben wollen. […] Es liegt an uns, welche Konsequenzen wir daraus ziehen wollen.“ („Det som er kjennetegnet ved terroraksjoner er jo at terrorister forsøker å skape frykt og skape reaksjoner slik at samfunnet skader seg sjøl. Og derfor så er det veldig viktig at ikke samfunnet reagerer på en slik måte som terroristene ønsker og det er en stor oppgave både for politikerne og for det sivile samfunn at man bevarer roen og sindigheten og ikke lar terrorister bestemme hva slags samfunn vi skal ha. Det er vi som skal bestemme hvordan vi skal leve i dette landet, og da må man sørge for at man i størst mulig grad greier å bevare det samfunnet vi vil ha. […] Det er opp til oss hva slags konsekvenser vi vil dette skal ha.“)

Die Normalo-Leser

News of the World und Lesertypologien.

Mit der News of the World (good riddance!) ist ja nicht nur eine gedruckte Sonntagszeitung verschwunden, sondern auch eine Website. Die Marktforscher von Experian Hitwise haben sich angeschaut, wer denn eigentlich die Besucher von newsoftheworld.co.uk waren und zu welchem Konkurrenzangebot sie möglicherweise wechseln.

Hitwise-Netzdiagramm

Das Netzdiagramm unten im Hitwise-Blogeintrag ist nicht ganz einfach zu verstehen — es zeigt an, welche Gruppen über- und welche unterrepräsentiert sind. Ein Lesebeispiel: Ganz oben liegt die blaue Linie bei knapp unter 130 Prozent. Das bedeutet, die Gruppe namens „Alpha Territory“ ist bei den Onlinenutzern von dailymail.co.uk (blau) deutlich stärker vertreten als ihr Bevölkerungsanteil. Ist eine soziodemografische Gruppe weder über- noch unterrepräsentiert, liegt der Wert bei 100 Prozent.

„Alpha Territory“? In Deutschland sind die Sinus-Milieus einigermaßen bekannt, die Medienforscher arbeiten unter anderem mit der MedienNutzerTypologie. Um Leute solchen Typologien zuzuordnen, muss man etwas über sie persönlich erfahren, ihre Werte, Ziele, Interessen und Aktivitäten. Das kann man sich aber auch einfacher machen — und das tun beispielsweise Kreditkartenfirmen: mit Geodemographie. Ich weiß vielleicht nicht, wer da eine Kreditkarte haben will, aber ich weiß, wo er wohnt. Postleitzahl HP18 0SB ist vertrauenswürdig, Postleitzahl E9 6EA eher nicht.

Eine dieser Klassifikationen nennt sich ACORN, und die Typologien heißen so langweilig wie die deutschen — „well-off working families with mortgages“ zum Beispiel. Ein neueres Konkurrenzsystem heißt Mosaic und wurde vom selben Menschen entwickelt, die Schubladen haben aber originellere Namen (PDF-Broschüre). „Active Retirement: Bungalow Quietude“, „Careers and Kids: Soccer Dads and Mums“ oder „Claimant Cultures: Worn-Out Workers“ sind ziemlich anschaulich. Es gibt in der Gruppe „Liberal Opinions“ auch den Typ „Bright Young Things“. Wer möchte das nicht sein?

(Wer wissen will, warum es schrecklich sein kann, in „Happy Families: Families Making Good“ zu landen, kann einen langen Guardian-Artikel über Kreditkarten-Schulden lesen.)

Um endlich zur News of the World zurückzukommen: Experian setzt sein Mosaic-System auch ein, um Internetnutzer einzusortieren. Und wer sind sie nun, die Onlineleser der News of the World? Etwas überdurchschnittlich junge Familien („New Homemakers“), ein bisschen unterdurchschnittlich ländlich Abgeschiedene, ansonsten: fast durchgehend der Durchschnitt.

Dass die gedruckte News of the World kein bloßes Schundblatt der working class war, zeigen andere Studien. Zeitungsleser werden nämlich seit Jahrzehnten nach der sozialen Schicht des Hauptverdieners eingestuft, von A über B, C1, C2 und D bis E. Begehrt sind vor allem die ABC1-Leser, also die obere bis untere Mittelschicht: weniger begehrt ist C2DE. In der letzten Leserstudie (April 2010-März 2011) erreichte News of the World 2,9 Millionen ABC1-Leser, dazu noch einmal 4,5 Millionen C2DE-Leser. Die News of the World erreichte also jeden Sonntag mehr ABC1-Leser als Sunday Telegraph, Observer und Independent on Sunday zusammen, wie der Observer etwas deprimiert ausgerechnet hat.

Gib mir ein B!

Eine kleine Erinnerung an Blogger.com.

Powered by Blogger

Vor zehneinhalb Jahren habe ich Blogger.com gerettet. Oder zumindest habe ich es probiert.

Etwas über 40 Mark habe ich damals in zwei 10-Dollar-Scheine getauscht und in einen Umschlag gesteckt, dazu ein Blatt schwarzes Papier, damit die Scheine nicht zu sehen sind. Brief und Geld landeten bei Pyra Labs in San Francisco, der Firma hinter Blogger.com, die von den gesammelten Spenden neue Server kaufen wollte. Aber es war auch klar, dass es um mehr als Server geht: Blogger war damals ein kostenloser Dienst, Pyra Labs eine kleine Firma mit fünf Leuten, Geschäftsmodelle („Blogger Pro“) lediglich in Planung.

Ende Januar 2001, knapp einen Monat nach dem Spendenaufruf, schrieb Blogger-Mitgründer Evan Williams auf, dass die Wahrheit noch düsterer aussieht: We are out of money, and I have lost my team. Blogger.com war plötzlich nur noch eine Person, und die anderen, die nicht mehr Blogger.com waren, bloggten darüber.

Ich war begeisterter Blogger-Nutzer seit Juli 2000. Eine Webseite ins Netz zu stellen, das war damals schon kein übermäßiges Problem. Aber eine Website aktuell zu halten, das war kein Vergnügen: Erst die neue Seite basteln, händisch per HTML oder in einem hässlichen Programm. Dann die alten Seiten ändern, die Links auf die neue Seite enthalten sollen. Dann Grafiken und Seiten per FTP-Programm auf einen Server laden. Dann testen und entdecken, dass irgendwo noch eine spitze Klammer fehlt. Und dann kamen Blogger & Co. und machten das Aktualisieren so wunderbar leicht! Ins Netz zu schreiben war nicht mehr nur theoretisch möglich, sondern kostete nicht mehr als einen Klick auf „Post & Publish“.

Blogger und Pyra Labs hatten also einfach etwas Besseres verdient als den Untergang, das fand zum Glück nicht nur ich. Evan Williams bekam einen neuen Server und Blogger kam über die Runden, bis schließlich 2003 Google den Laden übernahm. „Blogger war nie perfekt, aber Blogger war ganz weit vorne“, schreibt Nico Lumma. Stimmt — die Blogger-Nutzerschaft ist nach und nach abgewandert, je nach Gemütslage und Technikliebe zu Radio UserLand und Movable Type und Typepad, Antville und twoday.net, Textpattern und WordPress, Tumblr und Posterous. Aber nie wieder zurück zu den Zeiten, wo Text ins Netz schreiben bedeutete, Dateien irgendwohin hochzuladen.

Google hat laut Mashable jetzt vor, die Marke Blogger.com einzumotten. Dann heißt es eben künftig „Google Blogs“, macht nichts, die Gründer und die meisten Nutzer von damals sind ohnehin längst auf und davon.

Als Dank für die Spende habe ich übrigens Wochen später einen Brief aus San Francisco bekommen. Den Aufkleber mit dem Blogger-B habe ich bis heute aufbewahrt, soeben eingescannt und in mein Blogsystem hochgeladen. Push-button publishing for the people — the revolution will be bloggerized!

Aufkleber mit dem Blogger.com-Logo

Wo bin ich?

Ein Spiegel-TV-Studio für Vergessliche.

Spiegel TV ist jetzt in ein neues Studio in der Hamburger Hafencity umgezogen und feiert das mit einem Video.

Spiegel-TV-Studio

Der Monitor rechts, auf dem „Spiegel TV Magazin“ steht, wird leider ein bisschen verdeckt von der Einblendung „Spiegel TV Magazin“. Aber glücklicherweise gibt es ja links auch noch einmal drei Monitore, auf denen der Schriftzug „Spiegel TV“ durchläuft. Falls die Moderatorin den Namen der Sendung vergisst (das Studio ist ja schließlich virtuell), steht er auch noch einmal auf der Rückseite der Moderationskarten in ihrer Hand.

Aber was ist das da im Hintergrund? Doch nicht etwa…

Schriftzug Spiegel TV auf der Studio-Deko

Aber ja. Der Sendungsname steht da insgesamt bestimmt nicht weniger als 200 Mal.